"Bilanz der Tränen und Toten"

■ Nach der Auflösung des Altenheimes Sterkrader Straße fühlen sich ehemalige Bewohner von Politikern getäuscht / 30 der Umgesiedelten sind bereits gestorben

In der Sterkrader Straße in Tegel-Süd flattern keine Transparente mehr von den Balkonen. Das achtstöckige Gebäude, in dem bis zum Sommer dieses Jahres ein Seniorenheim untergebracht war, steht heute leer. Der entschiedene Widerstand von 91 dort wohnenden RentnerInnen gegen die Umsiedlung in andere Heime war vor einem Jahr von der Presse oft beschrieben worden. Die Grauen Panther wollten in den Räumen ein alternatives Wohnmodell für Senioren einrichten. Nach monatelangen Verhandlungen mit der Gewobag, der Verwalterin des Hauses, will die Wohnungsbaugesellschaft neuerdings selbst in den umstrittenen Bau einziehen.

„Ich würde sofort wieder zurückgehen“, sagt Frau Boness, 81. Seit ein paar Monaten lebt die gehbehinderte Rentnerin in der Schulstraße in Wedding. Hier sind die Flure hell und sehr sauber, in den Nischen befinden sich kleine Sitzecken, die Zimmer sind größer als im Tegeler Heim und haben eine eigene, abgetrennte Toilette. Trotzdem denkt Frau Boness mit Wehmut an die Freundschaften in der Sterkrader Straße zurück. „Ich bin hier ganz allein hergekommen“, behauptet sie, obwohl 16 Tegeler HeimbewohnerInnen mit ihr eingezogen sind – allerdings nicht alle in die gleiche Station. Dabei betrachtet Stationsschwester Elisabeth gerade Frau Boness als den besten Beweis für die erfolgreiche Eingliederung – immerhin hat die alte Dame erst hier mit einer Gehhilfe wieder zu laufen angefangen. Von der Geschichte der ihr Anvertrauten weiß die Schwester allerdings fast nichts. Nur an den „entsetzlichen Uringeruch“ im alten Heim erinnert sie sich noch.

Seit April '92 hatte die Bezirksverordnetenversammlung Reinickendorf die Schließung des Heims diskutiert: sicherheitstechnische Mängel wie beispielsweise fehlende Fluchtwege, eine schlechte sanitäre Ausstattung und ein für die saubere Weste eines Bezirks eher peinliches Hygienegutachten hatten damals zu einer seltenen Einmütigkeit in der BVV geführt. Von der AL bis zu den Reps wurde das Aus für das Heim gegen den erheblichen Widerstand seiner BewohnerInnen besiegelt. Die alten Leute, fast alle über 80 Jahre alt, hatten 2.000 Unterschriften gesammelt, Transparente gemalt und zähe Verhandlungen mit den Bezirksabgeordneten geführt, um die gewachsenen freundschaftlichen Strukturen nicht aufgeben zu müssen. Immerhin haben sie damit die Verantwortlichen zu einer Reihe von Zugeständnissen genötigt, die allerdings vielfach reine Lippenbekenntnisse blieben.

„Ich habe mich bei mehreren Besuchen davon überzeugt, daß sich die ehemaligen Bewohner in den neuen Einrichtungen wohl fühlen“, behauptet zum Beispiel Gesundheitsstadträtin Marlies Wanjura (CDU), der damals die Verantwortung für die Sterkrader Straße oblag. Da die Politikerin viele ihrer Versprechungen nicht eingehalten hatte, war es im Februar dieses Jahres zum Eklat in der BVV gekommen. So stand auch die Abwahl der Stadträtin zur Debatte. Laut BVV-Beschluß sollten zum Beispiel alle BewohnerInnen in ihrer angestammten Umgebung in Reinickendorf bleiben können. Tatsächlich lebt heute ein großer Teil in der Schulstraße in Wedding (16 Personen) und in Charlottenburg. Darüber hinaus sollten befreundete Gruppen zusammen umgesiedelt werden. Tatsächlich existieren neben der Schulstraße nur zwei größere Gruppen mit 20 oder neun Leuten, der Rest wurde in Kleinstgruppen, in zwei Fällen sogar allein einquartiert. Auch die versprochenen Einzelzimmer existieren nur zum Teil.

Lothar Krause, Vorstandsmitglied bei den Grauen Panthern, spricht von einer „Bilanz der Tränen, Qualen und Toten“ zum Zusammenhang mit der Umsiedlung. Da gab es beispielsweise Frau Schmidt, die geistig nicht mehr ganz beieinander war, in Tegel aber von der Gemeinschaft mitgetragen wurde. In ihrem neuen Heim war sie die ersten fünf Wochen festgebunden. Erst dann erfuhr die zuständige Ärztin, daß das gesetzeswidrig ist. Eine resolute Kämpferin gegen die Heimschließung landete in der Nervenheilanstalt. Nach Krauses Recherchen sind über 30 Personen aus dem Kreis der Betroffenen im Verlauf eines Jahres verstorben, eine Dame nur drei Tage nach ihrem Umzug. Besonders verärgert ist er über die Winkelzüge der Gewobag. Ein ursprüngliches Kaufangebot über 10,5 Millionen Mark für das ehemalige Heim, das man auf acht Millionen herunterzuhandeln versuchte, wurde im Spätsommer nach langen Verhandlungen plötzlich zurückgezogen.

Das Personal ist sich einig, daß die Umsiedler sich in der neuen Umgebung inzwischen sehr wohl fühlen. Nicht ganz zu Unrecht. Frau Kienitz, 90, bestätigt rundheraus, daß sie hier gerne lebe, während Frau Redner am Nachbartisch sich an die Sterkrader Straße kaum noch erinnern kann. Sieht fast so aus, als wenn vom rebellischen Rentnerzorn aus Tegel-Süd in Wedding nicht mehr viel übriggeblieben wäre. Jantje Hannover