: Siebzig und kein bißchen leise
Vom Sendeloch zum Klangteppich: Ein Ausflug in die Rundfunkhistorie, die 1923 in Berlin begann ■ Von Martin Klein
Rauschen, Krächzen, Knistern – dann eine Stimme, die mit dem Ernst eines Bahnhofsvorstehers ausruft: „Achtung, Achtung, hier ist Berlin, Vox Haus ...“ Mit diesen Sätzen beginnt in Deutschland eine neue Epoche, die Ausstrahlung der ersten öffentlichen Radiosendung oder: das Abenteuer Rundfunk. Wir schreiben den 29. Oktober 1923, acht Uhr abends. Der erste Radioabend, der mit dem Cello-Solo „Andantino“ fortgesetzt wird und musikalisch mit „Deutschland, Deutschland über alles“ endet, kommt aus Berlin, genauer aus der Potsdamer Straße. Dort hat die Vox-Gesellschaft ihren Sitz.
Wer sich damals den Kopfhörer seines Radio-Detektorapparates überstülpte, konnte verfolgen, was da so durch den Äther schwirrte: zeitgenössische Schlager, schmissige Charleston-Musik, klassische Konzerte, Ansprachen von Künstlern und Wissenschaftlern. Kurzum: eine ziemlich wilde Mischung, die noch wenig von Programmstrukturen, Planung und Sendekonzepten verrät.
Vox: Der erste Ereignis-Sender
Der große Erfolg für das neue Medium bleibt zunächst aus, die Hörerzahlen überschaubar. Wobei dies weniger am Programm als an den schlechten Zeiten liegt. Die Inflation galoppiert, im Herbst 1923 sind über eine Million Menschen in Deutschland ohne Arbeit. Elend und Armut grassieren. Die meisten haben andere Sorgen als sich um die neue Erfindung „Radio“ zu kümmern.
Der Durchbruch zum Massenmedium kommt denn auch erst zwei Jahre später. Das liegt wesentlich mit daran, daß Radiohören für breite Schichten einigermaßen erschwinglich geworden ist. Zwei Reichsmark monatlich bezahlt jetzt, wer sein Gerät ordnungsgemäß anmeldet. Und 1925 sind das immerhin schon eine Million Hörer. Neun Sender arbeiten mittlerweile auf dem Gebiet des deutsches Reiches, alle übrigens privatwirtschaftlich organisiert. Das Vox-Haus in Berlin etwa ist nicht nur Besitzer des ersten Rundfunk-Senders in Deutschland – Vox fabriziert und vertreibt gleichzeitig Schallplatten, und die werden zu Reklamezwecken auch gleich im „hauseigenen Rundfunk“ abgespielt.
Noch sehen die Studios der ersten Rundfunkgesellschaften recht abenteuerlich aus. Vox logiert in einer kleinen Dachkammer in Berlin. An den Wänden sorgen Wolldecken für die Schallisolierung, und für großgewachsene Sprecher müssen zwischendurch schon mal zwei dicke Adressbücher unter den Mikrofonständer gelegt werden, damit der Mann sich nicht bücken muß. Die unzureichende Technik und der Zwang zur Improvisation fordert freilich Opfer: Sendelöcher und Pannen sind an der Tagesordnung. Zumal alles „live“ vor dem Mikrophon produziert werden muß. Ganz egal, ob nun Konzert, Vortrag oder Hörspiel. Aufzeichnungsgeräte wie Platten, Tonbänder oder Wachswalzen kommen erst sehr viel später auf.
Tabu sind bis Ende der zwanziger Jahre im deutschen Rundfunk Nachrichten, Politik, Informationen oder Kommentare zum Zeitgeschehen. Reichsgesetze regeln, daß alle Sendungen und Programme strikt unpolitisch sein und ausschließlich der Bildung, Unterhaltung und „Erbauung“ dienen müssen.
Unter Papen: Rundfunk wird zum Staatsorgan
Widersprüchlich genug, denn die politische Radikalisierung spitzt sich weiter dramatisch zu. Über zehn Millionen Menschen sind Ende der zwanziger Jahre arbeitslos, die Wirtschaft liegt am Boden, die Weimarer Republik taumelt von einer Krise zur nächsten. Immer häufiger versuchen jetzt auch Parteien und politische Gremien, auf den Rundfunk Einfluß zu nehmen. Mit Erfolg. Zu Reichstagswahlen reden nun sogar Regierungs- und Oppositionspolitiker im Radio, Notverordnungen werden bekanntgegeben, Berichte zur Lage der Nation verlesen. Unter der Regierung Franz von Papen verliert der deutsche Rundfunk endgültig seine Unabhängigkeit und wird zum Staatsorgan.
Für wie wichtig die Nationalsozialisten den Rundfunk erachten, wird schon bald nach der Übergabe klar. Planmäßig gehen die Nazis daran, den Rundfunk der Weimarer Republik zu zerschlagen und zum Propagandainstrument umzubauen. Altgediente Intendanten, Redakteure und Programmitarbeiter werden verhaftet und ins KZ gesteckt, die Programme geändert. Jazz gilt ab sofort als „entartete Musik“. Statt dessen gibt es jetzt verstärkt dumpfe Marschmusik und Volkslieder zu hören. Dazu kommen Reden zu Reichsparteitagen, Reden zum Erntedankfest, Reden zu SA-Appellen, Reden zu Treffen der Hitlerjugend, Reden zum Winterhilfswerk. Und damit die Propaganda auch dort ankommt, wo sie hin soll, ordnen die Nazis die Massenproduktion von billigen Radiogeräten an. Die Parole heißt: „Rundfunk in jedes deutsche Haus“, und sie wird zielstrebig umgesetzt. 65 Reichsmark kostet der erste sogenannte Volksempfänger. Ab 1933 ist er überall zu kaufen, und die Leute greifen in Massen zu. Die Folge: Die Hörerzahlen steigen in wenigen Jahren von vier auf über zwölf Millionen.
Olympiade 1936: Braune Radiowerbung
Die braune Propagandamaschine läuft jetzt auf Hochtouren. Gerade rechtzeitig zu den Olympischen Spielen, die 1936 in Berlin stattfinden. Der Rundfunk überträgt das sportliche Großereignis das erste Mal weltweit. Dank des Rundfunks geraten die Spiele zur gigantischen Werbung für die braunen Machthaber. Nach innen geht derweil der Terror und die Hetze weiter. Konsequent trommeln die Nazis im Radio zum bewaffneten Überfall auf Polen, und am 1. September 1939 ist es soweit. Hitler hat sein Ziel erreicht: Der Zweite Weltkrieg beginnt.
Während des Krieges wird der Rundfunk zum wichtigsten Stützpfeiler der braunen Diktatur. Tagtäglich werden jetzt Sondersendungen ausgestrahlt: für die Soldaten an der Front, für die Bevölkerung zu Hause. Propaganda, Reden, gefälschte Nachrichten, Meldungen.
In den Vernichtungslagern läuft der industriell betriebene Massenmord, Hunderttausende Soldaten werden in den Tod geschickt. Heinz Rühmann trällert derweil im Radio: „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“. Unterhaltung wie diese soll die Deutschen vom Ernst der Situation ablenken. Wobei die militärische Niederlage für Deutschland längst unabwendbar geworden ist. Aber noch immer funktioniert die Propaganda. Zarah Leanders Erfolg: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“, wird gerade jetzt häufig im Radio gespielt.
Aber das Wunder bleibt aus. Dafür verbreitet wenige Tage vor der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands der Reichsrundfunk noch seine letzte Propagandalüge: Der Führer, so heißt es dort in einer aktuellen Meldung, sei in Berlin im tapferen Kampf gegen den Bolschewismus gefallen.
Von der „Stunde Null“ nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches 1945 ist oft die Rede gewesen. Für den Rundfunk hat das allerdings nie gegolten. In Hamburg, Bremen, München, Frankfurt, Koblenz und Baden-Baden setzen Spezialeinheiten der Alliierten die zum Teil zerstörten Sender rasch wieder instand. Die Amerikaner besetzten die Funkhäuser in ihrer Zone zunächst mit eigenen Leuten, meist deutschsprachigen Offizieren, und die Engländer holen dafür emigrierte Deutsche aus dem Exil zurück. Nur die Franzosen machen anfangs alles allein. Sie fordern erst nach und nach Deutsche zur Mitarbeit auf.
1946: Caprifischer und Reeducation
Die ersten Programme der Alliierten sind vom Gedanken der re- education geprägt. Die Deutschen sollen umerzogen werden, Demokratie lernen. Neben politischem Nachhilfeunterricht senden die Alliierten aber auch ganz Alltägliches: Tips und Informationen, wo Tauschbörsen stattfinden oder Lebensmittel und Kleidung ausgegeben werden. Der Rundfunk als praktischer Ratgeber, aber auch als Seelenwärmer. Im bitterkalten Winter 1945/46 träumen die Deutschen vom Süden, denn im Radio feiert der Schlager „Die Caprifischer“ von Rudi Schuricke Triumphe.
Nur wenige Jahre später, 1948/49, findet der Rundfunk in Deutschland wieder zu festen Organisationsformen. Der Nordwestdeutsche Rundfunk in Hamburg Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung
etabliert sich, Radio Bremen, der Hessische Rundfunk entstehen. Im Süden der Republik: der Südwestfunk in Baden-Baden, der Süddeutsche Rundfunk in Stuttgart und der Bayerische Rundfunk in München. Die 50er Jahre geraten zur Blütezeit des Hörfunks. Spätere Fernseh-Show-Größen wie Peter Frankenfeld, Hans Joachim Kulenkampff oder Hans Rosenthal machen sich als junge Radiomoderatoren einen Namen und werden zu Stars. Da fällt es kaum auf, daß 1954 – noch ziemlich leise – ein anderes Medium auftaucht: das Fernsehen.
Der Flimmerkasten: Ein Prestigeobjekt
Die kleine TV-Gemeinde fällt Mitte der fünfziger Jahre kaum auf, denn bis dahin leisten sich nur 84.000 Haushalte das neue Prestigeobjekt Flimmerkasten. Aber schon zehn Jahre später besitzen rund acht Millionen Deutsche ein Fernsehgerät.
Die Medienwelt hat sich seitdem dramatisch verändert. Das Radio ist längst nicht mehr der Nabel der Welt. Es ist zum Nebenbeimedium geworden. Hinzu kommt, daß veränderte Hörgewohnheiten und das Auftreten privater Anbieter Mitte der achtziger Jahre neue Probleme geschaffen haben. Zumindest für die Öffentlich-Rechtlichen. „Einstürzende Einschaltquoten“ quälen Programmverantwortliche. Verluste an Werbeeinnahmen in Millionenhöhe sorgen für Ärger.
In der ersten Reihe: Einstürzende Quoten
Und die Demoskopen haben herausgefunden: Gerade junge Hörer sind es, die in Scharen aus der „ersten Reihe“ der Öffentlich-Rechtlichen verschwinden und zu den Privaten wechseln. Währenddessen streiten Experten weiter darüber, wie dem Abwärtstrend bei den ARD-Hörfunkprogrammen wirkungsvoll begegnet werden kann. Die Medienlandschaft ist komplizierter und unüberschaubarer geworden. Der Kampf um Einschaltquoten und Werbemärkte wird wohl in Zukunft härter und aggressiver geführt werden als je zuvor. Wie das freie Spiel der Kräfte zwischen Privaten und Öffentlich-Rechtlichen am Ende ausgehen wird, bleibt abzuwarten. Eindeutige Gewinner stehen noch aus. Wetten werden noch angenommen.
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