: Haie vor Hongkongs Küste
Wie der Angriff eines Hais zum medialen Ereignis wird, die Strände leert, die Menschen bewegt und wie die Jagd nach dem Tier mit Räucherstäbchen und dem Gebet zur taoistischen Jagdgöttin ausklingt ■ Von Werner Meißner
Yan Sai-wah, 42 Jahre alt, besitzt einen kleinen Frisörladen in Wong Tai-sin, in der Nähe des Silverstrand Beach von Saikung, einer der schönsten Badebuchten Hongkongs. Hier lebt er mit seiner Frau, Yan Yim-lan, 35, und seinen beiden Kindern.
Am 1. Juni morgens um 6.30 Uhr geht Sai-wah mit zwei Freunden an den Strand. Während die Freunde fischen, schwimmt er hinaus. Er ist etwa 30 Meter vom Ufer entfernt, als er plötzlich schreit: „Hilfe! Hilfe! Ein Hai, ein Hai!“ Verzweifelt versucht er, ans Ufer zurückzukommen. Dann verschwindet sein Körper. Das Wasser färbt sich rot. Nach 25 Minuten wird der Körper, wieder an der Oberfläche treibend, gesichtet.
Yan Sai-wah ist tot. Verblutet, wie der Arzt im United Christian Hospital feststellt. Das linke Bein ist direkt unterhalb des Gesäßes abgebissen. Einige Fischer, die den Haiangriff beobachtet und auch Yans Körper gesehen haben, äußern die Auffassung, daß es ein Tigerhai gewesen sei.
Vor zwei Jahren hatte Yan Sai- wah beobachtet, wie ein Tigerhai eine Frau angegriffen und getötet hatte: Yeung Kam-ho, 65 Jahre alt. Yan war der einzige Augenzeuge des Angriffs gewesen und hatte dann den Körper der Frau aus dem Wasser geholt. Damals, so erzählte er später seiner Frau, habe er sich für kurze Zeit mit dem Hai ganz allein gefühlt. Seitdem ist er nur noch sehr selten geschwommen, und wenn, war er stets vorsichtig und blieb in der Nähe des Ufers.
Dies war die Rache des Hais, sagen jetzt viele: Er hat sich an Yan Sai-wah gerächt, weil dieser ihn damals beim Töten beobachtete.
Seit dem Angriff auf Yan Sai- wah herrscht an allen Stränden Haialarm. Überall sind die Haiflaggen gehißt. Die Strände liegen unter Videobeobachtung, und über Lautsprecher werden die Badegäste vor „Big Fish“ gewarnt.
Der Tigerhai ist der gefährlichste Räuber in der Südchinesischen See. Selbst andere Haie fürchten ihn. Der größte Tigerhai, der jemals erlegt wurde, maß 9,1 Meter. Ein sieben Meter langer Hai wiegt mehr als drei Tonnen. Tigerhaie haben Hunderte, manchmal Tausende von Zähnen. Sie sind in bis zu zehn Reihen hintereinander geordnet und wachsen ständig weiter. Der Hai kann sein Gebiß bis zu einem halben Meter öffnen.
Der Magen der Tigerhaie ist so dehnbar, daß die Tiere mühelos das Bein eines Menschen hinunterschlingen können. Tigerhaie fressen alles. In ihren Mägen hat man Autoreifen, Schildkröten und sogar andere Haie gefunden. Tigerhaie sind wie ein einziger Muskel und greifen mit unglaublicher Schnelligkeit alles an, was sie finden. Meistens sind sie Einzeljäger. Bisweilen jagen sie aber auch in kleinen Gruppen.
Seit vierzig Jahren geht Kwong Kong-hing fast jeden Morgen am Silverstrand Beach in Saikung schwimmen. Zehn Tage nach dem Angriff auf Yan Sai-wah, am 11. Juni, steht Kwong um 5 Uhr auf und macht wie immer seinen Spaziergang: 20 Minuten via Hang Hau zum Silverstrand Beach. Gewöhnlich schwimmt er bis 7 Uhr und kehrt dann nach Hause zurück. Das macht er täglich, seit vierzig Jahren. Heute haben ihn seine Frau und seine beiden Söhne eindringlich davor gewarnt, schwimmen zu gehen, doch Kwong will von seiner Gewohnheit nicht lassen.
Um 7.15 Uhr greift der Hai an. Kwong schwimmt gerade in brusttiefem Wasser. Der Hai reißt das linke Bein direkt unterhalb des Beckens ab und dazu noch die rechte Hand. Ein Freund von Kwong steht nur drei Meter hinter ihm. Er und zwei andere Männer holen kurz danach den blutenden Torso aus dem roten Wasser. Kwong ist bereits bewußtlos. Wenige Minuten später stirbt er am Blutverlust.
Gegen 11 Uhr springt ein Mann ins Wasser und schwimmt ins Meer hinaus. Die Angehörigen der Lebensrettereinheit werden unruhig. Fotoapparate werden an die Stirn gedrückt. Ist es die Nähe des Todes, der Kitzel, das Schicksal zu versuchen? Unversehrt kehrt der Mann zurück. Das Bild mit seinem Kopf über dem Wasser erscheint am nächsten Tag in allen Zeitungen Hongkongs.
Seit der zweiten Attacke innerhalb von zehn Tagen herrscht der Hai nicht nur über die Strände, sondern auch über die Köpfe vieler Menschen in Hongkong. Überall werden plötzlich Haie gesichtet. Nicht nur an den Stränden der New Territories, auch vor Lamma tauchen angeblich zwei Haie auf und durchschwimmen die Bucht einträchtig nebeneinander. Danach entschwinden sie wieder in die Tiefen des Meeres. Tausende von Augen aus den dreißig und mehr Stock hohen Wohnimmobilien direkt am Meer, wo die Monatsmiete dem Jahreseinkommen eines Busfahrers entspricht und alle zwei Jahre um 20 Prozent teurer wird, suchen das graue Wasser nach der Finne des Mörders ab. Die Haie melden sich auch vor Chengchau und Discovery Bay auf Lantau. Die Marine fährt vor den Badebuchten regelmäßig Patrouillen. Hubschrauber der Navy überfliegen die Strände. An allen dreißig Stränden Hongkongs herrscht Alarmstufe 1. Die Jagd auf den Hai beginnt. Der Silverstrand Beach wird zum Pilgerort. Hunderte von Schaulustigen zieht es hierher, zum Teil mit Ferngläsern und Fotoapparaten bewaffnet. Einige bringen dicke Stockangeln mit. An deren Enden hängen große blutende Fleischstücke, die sie ins Wasser werfen, in der Hoffnung, der Hai möge anbeißen. Ein Fischer läßt eine völlig verängstigte Ente an einer langen Leine hinausschwimmen. An ihren aufgeregt paddelnden Füßen hängt wiederum ein blutender Fleischköder. Einmal im Leben den „Big Fish“ angeln!
Lee Sze-wan, Besitzer eines Erfrischungskiosks, macht das Geschäft seines Lebens. Der Verkauf von Pommes frites und pikant gewürztem chinesischem Trockenfleisch hat sich vervielfacht, seine in der Mikrowelle schnell aufgeheizten Frühlingsrollen in Sojasoße gehen weg „wie warme Semmeln“. Bereitwillig gibt Lee Sze- wan Auskunft: Seit der letzten Haiattacke habe sich die Zahl der morgendlichen Schwimmer am Silverstrand Beach halbiert, es seien nur noch 15 pro Tag.
„Da!“ schreit einer mit einem Fernglas vor den Augen und scheint den Hai mit dem Zoom näher heranziehen zu wollen. Durch die Menge geht ein Ruck: Hunderte von Köpfen drehen sich gespannt in eine Richtung, die Hälse recken sich nach oben und nach vorn, schwanken hin und her. „Nur ein Stück Plastik!“ schallt es über das Wasser. Alles fängt an zu lachen. Die Stimmung ist ausgezeichnet.
Auch die Wissenschaft meldet sich zu Wort. Experten der Marine sind der Auffassung, daß die Haie inzwischen eine Vorliebe für die Gewässer Hongkongs entwickelt haben. Haie seien dafür bekannt, daß sie immer wieder dort jagten, wo sie schon einmal Futter gefunden hätten. Vielleicht seien die Haie mit Schwärmen von Thunfischen aus dem Südchinesischen Meer gekommen, mutmaßt dagegen Prof. Morton vom Swire-Meereslaboratorium. Er glaubt auch, daß die Haie jedes Jahr wiederkommen würden. Es gäbe noch mehr Gemeinsamkeiten: Die Opfer seien entweder einzeln oder in einer kleinen Gruppe geschwommen, Haie griffen aber nicht an, wenn das Wasser voll von Schwimmern sei. Auch seien die Angriffe zwischen 6 und 7 Uhr morgens erfolgt, eine bekannte Fressenszeit. Weiterhin seien die Beine der Opfer direkt am Unterleib abgebissen worden, ein Indiz, daß der Hai mindestens fünf Meter lang gewesen sein müsse.
Der Gerichtsmediziner, Dr. Carl Leung Ka-kui meint dagegen, es handele sich nach Untersuchung der Bißwunden nicht um ein und denselben Hai, in jedem Fall wären es aber Tigerhaie nicht von fünf, sondern mindestens von sieben Meter Länge. Ungewöhnlich sei auch, daß der Hai zweimal zugebissen habe. Normalerweise beiße er nur einmal, dann verschwinde er, um erst mal zu sehen, was er da erwischt habe. Ungewöhnlich sei gleichfalls, daß die Haie während der Tageszeit gejagt hätten. Im Gegensatz zu Prof. Morton vom Swire-Laboratorium glaubt Dr. Leung Ka-kui, daß Tigerhaie vielmehr bei Nacht jagten und während des Tages dann in tiefere Wasserschichten abtauchten.
Laut einem Fachbuch lieben es die Haie dagegen vor allem, nachmittags zu jagen. Das abweichende Verhalten könne aber, nach Ansicht eines Meeresbiologen der University of Hongkong, auch mit dem derzeit schlechten Wetter und der Veränderung der Wassertemperaturen zusammenhängen. Vielleicht seien die Haie zur Zeit auch völlig durcheinander.
Sorgen macht sich nun auch die Hongkong Tourist Association: Das Drachenbootfest in Saikung, eine Art traditionelles Wettpaddeln auf hierzu extra farbenfroh geschmückten Booten, ist wegen des Hais zwar nicht in Gefahr, doch sicherheitshalber soll die Rennstrecke von Fischerbooten mit Netzen gesichert und von bisher 6 auf 1,5 Kilometer verkürzt werden. Zugleich sollen Schnellboote hinter den Rennbooten herfahren. Auch das Drachenbootfest im Viktoriahafen kurz danach wird wegen des Hais diskutiert.
Wie eine Erlösung wirkt die Nachricht, daß ein erfahrener Haijäger aus Australien eingeflogen werde. Sein Name ist Victor Hislop. Eine Meute von Reportern ist zum Empfang des Haijägers am Flughafen Kai Tak erschienen. Zur Begrüßung trägt Victor ein riesiges Haigebiß wie ein Blumengebinde aus Hawaii um den Hals. Er ist gerade mal 1,50 Meter groß und wirkt kaum wie ein gleichwertiger Gegner des effizienten sieben Meter langen Mörders. Die Reporter jagen jetzt den Haijäger ähnlich, wie dieser den Hai jagen will: Wie Harpunen stoßen sie ihm ihre Mikrophone, Fernsehkameras und Tonbandgeräte ins Gesicht, als er mit seinen Trolleys durch den Zoll kommt, voll bepackt mit allem, was ein Haijäger so braucht: Seile, Flaschenzüge, Riesenhaken, Bojen, Metallstangen und die verschiedensten Arten von metallic glänzenden Jagdwaffen.„Ich brauche eine Woche, bis der Hai mit mir zusammen an der Leine schwimmt“, verkündet Victor siegesgewiß aus seinem Haigebiß heraus.
Auch das Landwirtschafts- und Fischereidepartment hat den Haijäger in Augenschein genommen: Er wirke professionell, so der zuständige Leiter der Fischereiabteilung, David Cook. Man wolle Mr. Hislop zunächst unterstützen. Keinesfalls sei man aber an einer Wettjagd auf den Hai interessiert; das sei das letzte, was man brauche, zu viele Köder würden nur noch mehr Haie anlocken.
Am Tag der Ankunft des Haijägers und auch am nächsten Tag werden erneut Haie gesichtet. Dann geht Victor Hislop ans Werk. Die Medien belauern ihn dabei Tag und Nacht. Jeden Morgen erscheint auf der ersten Seite des Standard, der zweitgrößten Tageszeitung, ein langer Bericht über seine Versuche, den Hai zu erlegen. Die Zeitung hat extra eine Hai-Vignette entwerfen lassen: Sie zeigt einen Hai, der sich weit aus dem Wasser hebt, mit aufgerissenem Maul, das aber zu einem merkwürdigen Grinsen verzogen ist. Die Vignette, etwa sechs mal sechs Zentimeter groß, steht jeweils auf der ersten Seite am Anfang der täglichen Jagdnachrichten. Damit ist auch endlich klar, wer die Haijagd finanziert.
Sieben Tage dauert das Fieber. Victor gäbe sein Letztes, heißt es im täglichen Bulletin, aber der Hai gebe nicht auf. Dann erhebt Victor erschöpft den Vorwurf, daß der Hai vor den zahlreichen Booten der Presse- und Fernsehleute, die ihn Tag und Nacht bei der Jagd beobachteten, wohl geflohen sein müsse. Die Jagdberichte werden kürzer. Ein letztes Foto auf der ersten Seite zeigt Victor im taoistischen Tin-Hau-Tempel der Fischer und Seefahrer auf der kleinen Insel Pengchau: In der „Halle hinter dem Himmel“ entzündet er Räucherstäbchen und fleht die Schutzgöttin um Beihilfe bei der Jagd an. Danach fließen Nachrichten über Victor und den Hai nur noch spärlich. Schließlich versinken sie endgültig in den Tiefen des täglichen Informationsstroms.
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