Die Grünen als Schutzmacht

■ Der grüne niedersächsische Minister Jürgen Trittin zur „Gefahr aus der Mitte“

Da hatte sich der Minister den Richtigen eingeladen! Aus den heiligen Hallen der Universität zu Hannover war der politische Übervater einer ganzen Generation linker Sozialwissenschaftler in den niedersächsischen Landtag geeilt. Professor Oskar Negt gab sich die Ehre, das soeben veröffentlichte Buch „Gefahr aus der Mitte“ zu würdigen. Als Autor zeichnet verantwortlich Jürgen Trittin, Minister für Bundesrats- und Europaangelegenheiten der rot-grünen Koalition in Niedersachsen.

Die Einladung war treffsicher, der Kommentar ähnelte dem Werk: Trittins Analysen über den Aufschwung des Rechtsradikalismus und den zugrundeliegenden Rechtsschwenk der herrschenden Parteien erweisen sich als tiefsinnig und hellsichtig, und mitunter verschafft der Autor seinen LeserInnen ein Aha-Erlebnis. Nur – was folgt daraus? Was können die Grünen im Wahljahr 1994 tun? Da bleibt Jürgen Trittin merkwürdig unbestimmt, oftmals geradezu nebulös und – sehr pessimistisch.

Der Pessimismus ist zum guten Teil berechtigt. Hatte doch Trittins Regierungschef, Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) – nicht zuletzt mit Hilfe seines Buches „Reifeprüfung“ –, für 1994 zum rot-grünen Sturm auf das Bundeskanzleramt geblasen und deshalb in der Urabstimmung der SPD- Mitglieder eine herbe Niederlage erlitten. Der daraufhin gekürte SPD-Kanzlerkandidat Rudolf Scharping bereitet seitdem alles für die Große Koalition in Bonn vor, woraus Trittin den Schluß zieht, daß den Grünen wohl nichts anderes übrigbleibe, als wenigstens in den Bundesländern noch ein paar rot-grüne Koalitionen zusätzlich zu etablieren. Ziel müsse es sein, mittels Bundesratsentscheidungen „die schlimmsten Exzesse zu mildern“ und eine „Sperrminorität gegen den Rechtsrutsch“ zu bilden. Die Reifeprüfung auf Bundesebene muß verschoben werden.

So weit die eine Seite der Medaille. Doch auch Jürgen Trittin trägt, zumindest als Buchautor, eine gewisse Mitverantwortung für die Lage auf Bundesebene. Treffend analysiert Trittin den Rassismus in der Innenpolitik und Militarismus in der Außenpolitik als beherrschende Erscheinungsformen Kohlscher Regierungstätigkeit. Demgegenüber präsentiert sich der grüne Minister als Verteidiger des Grundgesetzes der alten Bundesrepublik, hält das inzwischen abgeschaffte Asylrecht und das inzwischen ignorierte Friedensgebot hoch. Das jedoch reicht als Konzept einer Oppositionspartei noch lange nicht, um die Bundesregierung aus dem Sessel zu heben.

Was bei den Grünen noch alles zu tun ist, um zu einem gesellschaftlich wirksamen Zukunftskonzept zu kommen, zeigt sich am deutlichsten bei der neuen „sozialen Frage“. Ohne auf diesem für die Partei traditionell schwierigen Terrain selbst Wege weisen zu können, mahnt Trittin seine ParteifreundInnen, sich um die „soziale Gerechtigkeit“ zu kümmern und nicht, wie mit dem Motto des Jahres 1990, „Alle reden von Deutschland, wir reden vom Wetter“, die entscheidenden Probleme zu verschlafen. Wollen die Grünen eine Chance auf Wiedereinzug in den Bundestag und langfristig auf eine rot-grüne Bundesregierung haben, müßten sie sich der „resignierten, marginalisierten Menschen“ annehmen und damit zur „Schutzmacht der Ausgegrenzten“ werden.

Wer aber sind diese Ausgegrenzten? Jedenfalls keine homogene Gruppe, keine Klasse, wohl aber 30 Prozent, vielleicht 40 Prozent der deutschen Bevölkerung: ostdeutsche Treuhand-Opfer ohne Arbeit, westdeutsche Sozialhilfeempfänger, seit 20 Jahren in Berlin lebende TürkInnen ohne Wahlrecht, Leute mit geringem Einkommen, Menschen, die nicht mehr zur Wahl gehen. Alle diejenigen, die CDU, SPD und FDP im Zeichen der verschärften internationalen Konkurrenz um die Wirtschaftsstandorte gar nicht mehr in die Gesellschaft einbeziehen wollen – unter anderem, weil Integration Geld kostet. Die herrschenden Parteien nutzen die gegenwärtige Wirtschaftskrise, so Trittins These, um die Nachkriegsdemokratie grundsätzlich zu verändern: Sie nähmen Abschied vom Modell „Wohlfahrtsstaat“ und vom Modell „Volkspartei“. Die Konservativen sicherten unter Mithilfe der SPD nur noch die Herrschaft einer „dominanten Minderheit“.

Als deren gemeinsame Ideologie fungiere der „Wohlstandschauvinismus“ – die Überzeugung, den Wohlstand verdient zu haben, kombiniert mit dem Unwillen, ihn zu teilen. Und als Herrschaftsinstrument nach außen diene der Rassismus, der sich gegen die richtet, die ihr Stück Wohlstandskuchen wollen. Trittins zentrale These: „Die Rechtsverschiebung ist nicht von verwirrten Glatzköpfen und reaktionären Greisen am rechten Rand der Gesellschaft bewirkt worden. Sie ist im Zentrum der politischen Klasse entwickelt und umgesetzt worden.“ Hannes Koch

Jürgen Trittin: „Gefahr aus der Mitte – Die Republik rutscht nach rechts“. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1993, 24 DM