Italiens Parlament nicht mehr immun

■ Parlamentarier in über 600 Ermittlungen verwickelt

Rom (taz) – Die Mehrheit, die im römischen Senat – der zweiten Kammer des italienischen Parlaments – am Donnerstag die bisher geltende Immunitätsregelung für Volksvertreter aufhob, war überzeugend: mehr als 90 Prozent. Ähnlich groß war bereits vor zwei Wochen die Zustimmung der Deputiertenkammer ausgefallen. Wenn der Staatspräsident Anfang der Woche unterzeichnet, dann fällt damit ein Privileg, das in Italien immer mehr zum Hemmschuh für eine normal funktionierende Justiz geworden war: Künftig dürfen Staatsanwälte ohne vorherige Genehmigung auch gegen Abgeordnete und Senatoren in Strafsachen ermitteln.

Nur wenn bei diesen Hausdurchsuchungen vorgenommen werden sollen, eine Verhaftung oder Lauschangriffe beabsichtigt sind, müssen Senat beziehungsweise Kammer für das betreffende Mitglied vorher die Erlaubnis erteilen. Immun bleiben die Volksvertreter weiterin bei allen Akten der Ausübung ihres Mandats – sie können nicht für politische Äußerungen oder für ihr Abstimmungsverhalten zur Rechenschaft gezogen werden. Das Echo in der Öffentlichkeit war einhellig positiv – kein Wunder, derzeit laufen mehr als 600 Ermittlungen, in die Parlamentarier verwickelt sind. Gegen über dreihundert – der 966 Senatoren und Deputierten – war die Aufhebung der Immunität schon beantragt worden. Dabei geht es nur selten um Kavaliersdelikte – etwa die Beleidigung eines Kollegen im Wahlkampf –, sondern mehrheitlich um Erpressung und Hehlerei bis hin zu Bildung mafioser Vereinigungen. Einige Male hatte sich überdies gezeigt, daß Parteien Dunkelmänner und Mafiosi – aus Dank für Zuwendungen oder aufgrund böser Verfilzung – gerade der Immunität wegen ins Parlament gehievt haben, um sie so der Strafverfolgung wegen ihrer Geschäfte zu entziehen. Der Ruf nach der generellen Aufhebung der Straflosigkeitschance war daher immer lauter geworden.

Aus der beschlossenen Aufhebung ergibt sich nun eine kräftige Verwirrung: Nach Ansicht des Ministers für die Beziehungen zum Parlament, Elia (selbst vordem Präsident der Verfassungsgrichts), sind mit der nun erfolgten Neuregelung auch die in den vergangenen Monaten abgelehnten Verfahrenseröffnungen möglich. So etwa gegen den ehemaligen Vorsitzenden der Sozialistischen Partei, Bettino Craxi, bei dem in drei von fünf Fällen die Ermittlungserlaubnis verweigert worden war. Strikt dagegen sind natürlich die Anwälte Craxis und einiger anderer „Kandidaten“ für Ermittlungsverfahren. Ihrer Meinung nach ist die vorher beschlossene Verweigerung der Immunitätsaufhebung für alle Zeiten bindend, da das Gesetz sonst rückwirkend in Gang gesetzt wäre, was einem demokratischen Grundprinzip widerspricht.

Das hat auch nach Ansicht einiger Verfassungsrechtler viel für sich – nur, Italiens Verfassungsgericht selbst hat hier bereits vor einem halben Jahr eine neue Philosophie erkennen lassen. So hat es, just nach der Verweigerung des Parlaments im Falle Craxi, den Mailänder Staatsanwälten die Anfechtung des abschlägigen Parlamentsbescheides gestattet. Begründung: Da im Immunitätsgesetz genau festgelegt ist, unter welchen Umständen die Strafverfolgung genehmigt werden muß, sind die Parlamentarier nicht absolut frei in ihrer Entscheidung. Mithin ist diese auch einem regulären Überprüfungsverfahren unterwerfbar.

So wird die Neuregelung vermutlich zunächst ihrerseits noch einige Zeit vor den Gerichten landen, bis dann auch die Gauner und korrupten Mauschler des Hohen Hauses dem Kadi zugeführt werden können. Werner Raith