Der Gipfel der offenen Fragen

EG-Regierungschefs setzen positive Signale und lassen sich von Problemen nicht stören / Nur die „Sitzfrage“ der Euro-Bank wurde geklärt  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Die sozialistische Gewerkschaft hatte die Angestellten der öffentlichen Verkehrsmittel nicht ohne Hintergedanken an diesem Freitag zum Proteststreik gegen die Sparpläne der belgischen Regierung aufgerufen. Die Regierungschefs der EG und die 800 für den Gipfel angereisten Journalisten sollten sehen, was den Menschen unter den Nägeln brennt. Nur die U-Bahn lief wie gewohnt: Unter der Erde dominiert in Belgien die christliche Gewerkschaft, und die wollte da nicht mitmachen.

Die Regierungschefs bekamen davon kaum etwas mit. Für die Journalisten wurden die Fernsehbilder von der Großdemonstration via Großleinwand in die Pressesäle eingespielt. Auf dem Gipfel selbst spielten die aktuellen wirtschaftlichen Probleme kaum eine Rolle. Zwar trug EG-Präsident Jacques Delors einige Thesen aus dem für Dezember angekündigten Weißbuch der EG-Kommission zur Beschäftigungspolitik vor. Seine Vorschläge – Abschaffung von Mindestlöhnen und Lockerung von Arbeitszeitbeschränkungen, neue Kredite für Arbeitsbeschaffungsprogramme und Steuerreformen zugunsten arbeitsintensiverer Fertigung – waren schon am Dienstag von den Finanzministern zerlegt worden. Auf dem Gipfel wurden die Thesen nur kurz erwähnt, um Streit zu vermeiden.

Das außerordentliche EG-Ministerratstreffen sollte vor allem ein Signal sein, um „die Dynamik des europäischen Aufbaus wiederzubeleben“, wie EG-Parlamentspräsident Egon Klepsch als Gastredner gleich zu Beginn betonte. Die Kanzler, Staats- und Ministerpräsidenten sprachen dann von „realistischer Zuversicht“ (Portugal), vom „Beginn einer neuen Etappe in Europa“ (Belgien) und von einem „wichtigen Schritt“ (Deutschland). „Der Gipfel hat in erster Linie einen Feier-Charakter“, fabulierte ein Kommissionssprecher mit Blick auf das Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages. Um das „positive Signal“ (Belgien) nicht durch unschöne Begleittöne zu stören, wurden wichtige Themen ausgeklammert.

Die belgische Präsidentschaft hat in den letzten Wochen fleißig daran gearbeitet, wenigstens alle technischen Probleme für die Umsetzung des Maastricht-Vertrages aus dem Weg zu räumen. Von den nötigen Gesetzesvorlagen für die Kontrolle der Konvergenzkriterien bis zu den außenpolitischen Bereichen haben die Belgier in mühsamer Kleinarbeit die unterschiedlichen Länderinteressen bis zur Unterschriftsreife zusammengebracht. Ohne Details zu nennen, erklärten die Regierungschefs erwartungsgemäß das ehemalige Jugoslawien, Rußland und den Nahen Osten für Felder, auf denen sie sich künftig mehr als bisher absprechen und gemeinsam handeln wollen. Doch die grundlegenden politischen Meinungsverschiedenheiten über die Zukunft Europas konnten die geschickt verhandelnden Belgier auch nicht ausräumen.

Die institutionellen Reformen der EG, die durch den für 1995 geplanten Beitritt von Österreich, Norwegen, Schweden und Finnland eigentlich notwendig wären, wurden auf 1996 verschoben, weil sich die großen und die kleinen Länder nicht über die Stimmverhältnisse einigen können. Wenigstens die Standorte der wichtigsten Europa-Institutionen wie die Umwelt-Agentur und Europol, vor allem aber den Sitz des Europäischen Währungsinstituts (EWI) konnten die Regierungschefs auf dem Brüsseler Gipfel klären: Schließlich soll das EWI am 1. Januar seine Arbeit aufnehmen und irgendwann zur Europäischen Zentralbank mutieren.

Noch am Morgen hatte der belgische Ministerpräsident Dehaene die „Sitzfrage“ zur wichtigsten Angelegenheit des Tages erklärt. Zehn Euro-Institutionen sollen auf die Mitgliedsländer verteilt werden. Und da nicht alle für gleich wichtig gehalten werden, pokerten die EG-Regierungen seit Wochen um die dicksten Fische. Noch kurz vor der Entscheidung für Frankfurt verblüffte der deutsche Regierungssprecher Dieter Vogel mit der Erklärung, der Sondergipfel dürfe nur als vorgezogener Teil des regulären Treffens im Dezember gesehen werden.

Dabei hatten bis auf den britischen Premier John Major alle anderen ihre Widerstände gegen Frankfurt/Main längst aufgegeben. Die Bundesregierung hatte vorsorglich jedes Interesse an etwas anderem als dem Währungsinstitut eisig abgelehnt, um gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen, daß Bonn vielleicht billiger abgespeist werden könnte. „Wer die Währungsunion will“, so ein hoher deutscher Beamter, „der muß für Frankfurt stimmen.“ Aber möglicherweise war das der Grund, warum England sich so anhaltend dagegen stemmt und die künftige Zentralbank, wenn schon in Deutschland, dann lieber in Bonn sehen würde – mit ein wenig Abstand zur Bundesbank.