Wahrscheinlich „war an der Sache was dran“

■ Bremer Anwälte brachten Prozeß wegen sexuellem Mißbrauch am 24. Tag zum Platzen

Verden Die heute 14jährige M. beschuldigt ihre Mutter und ihren Stiefvater, sie im Alter von zehn bis elf Jahren sexuell mißbraucht zu haben. Das Landgericht Verden brauchte anderthalb Jahre, um zu keinem Ergebnis zu kommen. In der letzten Woche wurde das Verfahren gegen Zahlung von 10.000 Mark Schmerzensgeld eingestellt.

Eine Erklärung der vorsitzenden Richterin Birgit Lemme zur Schuldfrage lehnte die Verteidigung, die Bremer Anwälte Erich Joester und Wolfgang Müller-Siburg, vehement ab. Sie begründeten ihren Antrag auf Einstellung mit physischer Erschöpfung ihrer Mandanten, einem 52jährigen Mann und einer 34 Jahre alten Frau aus einer niedersächsischen Kleinstadt. So wurde die Nebenklageverteterin, die Anwältin Barbara Klawitter aus Hannover lediglich gebeten, dem Mädchen zu vermitteln, das Gericht gehe davon aus, „daß an der Sache etwas dran“ sei.

Das Mädchen wurde drei Tage lang unter Ausschluß der Öffentlichkeit befragt.

Das Attest eines Gynäkologen bescheinigte Narben im inneren Genitalbereich. Die Hausärztin der Familie bestätigte, das Kind sei zehn bis 15mal bei ihr gewesen, meist wegen „Bauchschmerzen“ oder Jucken am After. Einmal wurde sie auch nachts gerufen, weil das Mädchen über Schmerzen „da unten“ klagte. Abtasten ergab keinen Befund. Sie habe die Beschwerden als vegetativ bedingt gedeutet. Nachdem sie von dem Mißbrauchsvorwurf erfahren habe, passe jedoch alles zusammen.

Das Klima im Gerichtssaal war von Beginn an gereizt. Die Konfrontation zwischen dem später abgelösten Vorsitzenden Richter Helmut Wiehr und den beiden Bremer Verteidigern, versiert in der Vertretung von mutmaßlichen Tätern, führte letztlich zum Scheitern der zweiten Hauptverhandlung. Die erste war bereits wegen eines Formfehlers ausgesetzt worden.

In der Beurteilung von Sexualdelikten hat sich der Wind gedreht, trotz der aktuellen Gegenoffensive. Die Unterstellung, daß Vergewaltigungsopfer mitschuldig sind, weil sie den Mann gereizt haben oder der Mißbrauch an Kindern deren Phantasie entspringt, ist auch in Richterköpfen nicht mehr vorherrschend.

Um diesem Glaubwürdigkeitsbonus des Opfers etwas entgegenzusetzen, stilisierten Müller- Siburg und Joester ihre Mandanten zu von der Justiz verfolgten Underdogs: Der Kampf für die Armen und Entrechteten als Legitimation für eine exessive Ausschöpfung der Rechte der Verteidigung. Nach amerikanischem Muster zogen sie alle Register psychologischer Kriegführung. Belastungszeugen wurden rüde angeherrscht und wegen ihrer mangelnden sprachlichen und gedanklichen Kompetenz gnadenlos vorgeführt. Es hagelte Anträge auf Unterbrechung, auf Vertagung, auf wörtliche Protokollierung und auf Befangenheit der Richter sowie der als Gutachterin für die Glaubwürdigkeit des Mädchens bestellten Bremer Psychologin Marianne Isenberg. Sämtliche handschriftliche Notizen der Gutachterin sollten beschlagnahmt werden.

Am 7. Verhandlungstag verlor Richter Wiehr schließlich die Nerven. Nachdem Joester mit Terminschwierigkeiten gedroht hatte, falls er die Isenberg-Unterlagen nicht umgehend erhalte, ordnete Wiehr zwei weitere Pflichtverteidiger bei, ohne den Angeklagten die Möglichkeit zum rechtlichen Gehör zu geben. Damit war auch die zweite Hauptverhandlung geplatzt.

In der nunmehr dritten Hauptverhandlung unter Birgit Lemme wollte das Mädchen nicht noch einmal aussagen. Hätte die Justiz sorgfältig gearbeitet, wären die Aussage vor dem Untersuchungsrichter (gleich nach der Anzeige) oder die Angaben gegenüber der Gutachterin verwendbar gewesen. Aber beide Befragungen waren nicht revisionssicher, da das Mädchen nur vage über seine Rechte belehrt worden war.

Das Gericht versuchte, die Aussagen des Mädchens durch Vernehmung der inzwischen allesamt als befangen abgelehnten Richter aus der zweiten Hauptverhandlung zu rekonstruieren. Die Zeugen aus der vorhergehenden Verhandlung mußten wurden noch einmal geladen. Verfahrensfragen und Plänkeleien zwischen den Prozeßbeteiligten hatten den Fall selbst längst an den Rand des Geschehens gedrängt. Die Gerichtskosten beliefen sich mittlerweile auf über 100.000 Mark. Hinter den Kulissen wurde bereits über eine Einstellung verhandelt, die am 24. Verhandlungstag auf Antrag der Verteidigung schließlich zustande kam. Wie in einem schlechten Film zog Joester zehn nagelneue Tausender aus der Tasche und blätterte sie der Nebenklage hin.

Das Mädchen tauchte nicht mehr auf, sie wollte von all dem nichts mehr wissen. Mit 18 kann sie 10.000 Mark vom Konto abheben. Marie Beckmann