Entzugsinsel in Lichtenberg

■ Drogen-Selbsthilfeorganisation Synanon gibt ihr Kreuzberger Zentrum auf und baut in Lichtenberg Neubaukomplex für 450 Drogenabhängige / Größtes Bauvorhaben seit Gründung vor 22 Jahren

Eine dicke Schranke versperrt die Einfahrt zum ehemaligen zentralen Warenlager des DDR- Kombinats WTB („Waren täglicher Bedarf“). Wer hier durchkommen will, muß sich erst einmal beim Empfang melden und wird nach Beamtenmentalität akribisch in eine Liste eingetragen. Arbeiter, die Mehl, Zucker und andere zum Leben wichtige Dinge in den riesigen Lagerhallen stapeln, passieren die Schranke aber schon lange nicht mehr, sondern nur noch Bauarbeiter mit Bagger und Schaufel. Und natürlich die neuen BewohnerInnen des 17.000 Quadratmeter großen Geländes – manche tragen dunkelblaue formlose Latzhosen, viele haben frühzeitig gealterte Gesichter und Tattoos auf den Armen, aber eins haben sie alle gemeinsam: Sie wirken ungeheuer beschäftigt.

Auf dem ehemaligen Industriegelände in der Lichtenberger Herzbergstraße soll Deutschlands größte Suchthilfeeinrichtung entstehen, Träger ist der Verein „Synanon – Leben ohne Drogen“, der vor kurzem sein 22jähriges Jubiläum gefeiert hat. Bis zu 450 Menschen sollen nach Abschluß der Bauarbeiten im Herbst 95 hier ein neues Zuhause in der „Lebensgemeinschaft“ des Vereins finden – gemeinsam soll entzogen, gearbeitet und gelebt werden. Den Kauf des Geländes für knapp sechs Millionen Mark ermöglichte der Verein durch den Verkauf des Stammgebäudes in der Bernburger Straße unweit des Potsdamer Platzes für 29 Millionen Mark. Dort ist jetzt nur noch der Synanon-Neubau geöffnet – bis zum Abschluß der Bauarbeiten in Lichtenberg.

Bis zur endgültigen Einweihung wird das ehemalige Warenlager völlig umgestaltet und zum größten Teil abgerissen. Nur der vordere Teil, ein 80jähriges Backsteingebäude, der frühere Verwaltungstrakt von WTB, bleibt bestehen. Dort leben bereits seit zwei Jahren 120 „SynanistInnen“, alles Drogen-, Medikamenten- und Alkoholabhängige, ein Drittel davon sind Frauen. In den langen Fluren, in denen es immer noch nach muffigem DDR-Desinfektionsmittel riecht, herrscht tagsüber hektische Betriebsamkeit. Eine Frau in blauer Latzhose putzt sorgfältig die alten Fenster, immer wieder wischt sie mit ihrem Lappen über die Scheibe, die längst blitzblank ist. Einige Zimmer weiter hat die „Kommandozentrale“ ihren Sitz, ein supermodernes Büro mit Computern und Funktelefon. Hier wird der Alltag der Entzugswilligen geregelt und organisiert – vom frisch angekommenen Fixer, der auf das „Begrüßungsgespräch“ wartet, bis zum Einkauf und den verschiedenen Arbeitseinsätzen der BewohnerInnen, die koordiniert werden müssen. Die, die im Kommandozimmer arbeiten, müssen keinen blauen Overall mehr tragen, sie sind in dem streng hierarchischen Entzugsverein schon einige Stufen höher geklettert. Die anderen dagegen zeigen mit der Latzhose, daß sie neu in der Gemeinschaft sind, und müssen dementsprechend einfachere Arbeiten verrichten.

In den geräumigen Zwei- bis Vierbettzimmern ist jedes der schlichten Holzbetten sorgfältig mit einer Tagesdecke bedeckt, kein Kleidungsstück liegt herum. Wäre das Mobiliar nicht bunt zusammengewürfelt, fast alles sind Spenden, so könnte man sich auch wie auf einer Möbelausstellung fühlen, denn in der Herzbergstraße hat jedes Stück seinen festen Platz. Für Martin Bloch, seit drei Jahren Synanist, hat das neue Projekt in der Herzbergstraße manchmal sogar „Landschulheimcharakter“. Kein Wunder, denn die Flure sind schmal und endlos lang – in dem riesigen Eßsaal, einem ehemaligen Gewürzlager, verlieren sich die Gespräche an den wenigen Tischen im Raum.

Das wird sich aber bald ändern: Wenn der Neubau, der sich U-förmig an das Verwaltungsgebäude anschließt, fertiggestellt ist, werden auf der Entzugsinsel zwischen einer Lüftungsanlagenfabrik und dem evangelischen Krankenhaus „Königin Elisabeth Herzberge“ rund 450 Menschen leben und arbeiten. Eine Tischlerei, Schlosserei, eine Fahrrad- und Elektrowerkstatt sollen entstehen, die Keramikwerkstatt und die Bäckerei aus der jetzigen Synanon-Zentrale in Kreuzberg werden ebenfalls umziehen. Auch ein Familienhaus für süchtige Eltern und eine Pflegestation sind geplant.

Ein heilloses Durcheinander beim Massenentzug – oder hilft die straffe Hierarchie, die Bedürfnisse der Bewohner zu organisieren? „Die Koordination ist bei einem so großen Haus natürlich ein großes Problem“, sagt Martin Bloch, der in der Bernburger Straße in der Verwaltung arbeitet. Im Moment würden pro Tag mindestens drei bis vier Menschen nach Kreuzberg kommen, einige blieben nur einige Tage oder Monate, viele aber auch länger als ein Jahr. Aber: Niemand wird abgewiesen. „Wir hoffen, daß in Lichtenberg jeder noch individuell behandelt werden kann“, erzählt der Ex-Junkie. Er ist aber zuversichtlich, denn Synanon sei es gewohnt, Modelle zu schaffen, die es vorher noch nicht gegeben hat. „Wenn es aber trotzdem nicht klappt, dann schließen wir eben die Herzbergstraße wieder und machen kleinere Projekte auf.“ Bisher ist die größte Suchteinrichtung Deutschlands allerdings noch eine große Baustelle. Aber auch zwischen Baggern, Abrißbirnen, Sand und Schutt herrschen bereits die drei Grundregeln, die Entzugswillige akzeptieren müssen, wenn sie in der Synanon-Gemeinschaft leben wollen: kein Alkohol oder Drogen, kein Tabak und kein Androhen oder Ausführen von Gewalt. Diese strikten Grundsätze – bei Verstoß muß man Synanon sofort verlassen –, müssen alle befolgen, die sich auf dem Gelände aufhalten, auch die Bauarbeiter: Sie passieren in den Pausen die Schranke, rauchen ihre Zigarette und trinken ihr Bier vor der Tür der Lichtenberger Entzugsinsel. Julia Naumann