■ Der neue deutsche und europäische Rechtsradikalismus
: Die Furcht Europas vor dem Wandel

Handelt es sich bei dem „neuen alten“ Rechtsradikalismus um ein spezifisch deutsches, vor allem aus der deutschen Tradition erklärbares oder um ein gemeineuropäisches, alle Länder des Kontinents betreffendes Phänomen? Um meine These vorwegzunehmen: Offensichtlich stellt der Rechtsradikalismus ein europäisches Phänomen dar; das ändert freilich nichts daran, daß er in Deutschland stets in einem anderen Kontext steht als in anderen europäischen Ländern. Ganz abgesehen davon, daß nirgendwo sonst in Europa die rechte Gewaltbereitschaft derart unverblümt und massiv auftritt.

Erfolge hatten rechte Parteien zwar schon vor dem Jahr 1989; seitdem aber – so scheint es – formulieren sie offensiver und erfolgreicher als zuvor ein allgemeines Unbehagen. Schon vor 1989 war ein Ende der jahrzehntelangen europäischen Prosperitätsphase absehbar und teilweise auch schon spürbar; seit 1989 ist dies Ende zur unausweichlichen Gewißheit und für nicht wenige auch schon zur schmerzlichen Realität geworden.

Im Schatten von Jalta blühte Westeuropas Glück

Wie bedrohlich die neue europäische Unordnung und Unübersichtlichkeit erscheinen muß, wird deutlich, wenn man sich noch einmal die Zeit davor in Erinnerung ruft. Es war die Ära der politischen Ordnung von Jalta. Ihr Ende war – mit dem Fallen von Mauern – ein Moment unerwarteten Glücks, und in den mehr als vierzig Jahren des Kalten Kriegs ist die Barbarei der Ordnung von Jalta immer wieder und zu Recht beschrieben worden. Doch es gab auch eine Gegenseite: Die Ordnung von Jalta bescherte dem Westen Europas eine bisher nicht dagewesene, ja nicht einmal vorstellbare Zeit des Friedens und der Prosperität. So absurd es klingt: Im Schatten der Bombe erlebte Westeuropa eine einmalige Phase des Glücks. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war in Europa der immerwährende Streit um Grenzen der Normalfall gewesen, und der Nationalismus hatte diesen Querelen einen besonders unversöhnlichen Charakter gegeben.

Zudem war der Kapitalismus bis dahin nicht nur in den peripheren Ländern Europas, sondern auch in seinem Zentrum nur als Krisenmodell erlebbar gewesen. Vor diesem historischen Hintergrund wird schnell deutlich, welche Faszination von der Nachkriegsordnung ausgegangen sein muß. Erstmals kein Streit um Grenzen mehr; erstmals für die große Mehrheit der Westeuropäer die Möglichkeit, sich anders als auf Schlachtfeldern zu begegnen; und erstmals ein Wohlstand, der bisher gänzlich undenkbar gewesen war.

Westeuropa hat es in den „goldenen Zeiten des Kalten Krieges“ versäumt, das Projekt der europäischen Integration entschlossen voranzubringen. Um so größer dann das Erstaunen und Erschrecken, als plötzlich keine Zeit mehr zur Verfügung stand, die Ordnung von Jalta binnen kürzester Zeit zusammengebrochen war und die Geister der Vergangenheit zurückkehrten. Es gab kein stabiles nach- nationales und politisch integriertes Europa, das nach Osten hin als Vorbild hätte fungieren können. Und vor allem: Schlagartig war die Zeit europäischer Nichtgeschichte, war die Zeit des Stillstands im Winkel der Weltgeschichte vorbei.

Schon vor 1989 war das Thema der möglichen Armutsmigration aus dem Süden der Welt wie auch aus dem Osten Europas virulent. Schon zuvor waren die Vorbehalte gegen den europäischen Integrationsprozeß und die Furcht vor Wohlstandsverlusten verbreitet. Doch der Epochenbruch von 1989 hat für viele all diese Ahnungen zu Gewißheiten werden lassen und sie mit beträchtlicher Wucht ausgestattet. Zunehmend wurde überall in Europa die gesamte neuere Entwicklung als Bedrohung wahrgenommen. Es liegt auf der Hand, was das alles mit Xenophobie und Rechtsradikalismus zu tun hat. Jeder weiß, daß die goldenen Zeiten ständiger Zuwächse vorbei sind; und jeder weiß, daß wir in Westeuropa etwas Neues werden lernen müssen: den zivilen, demokratischen Umgang mit Krisen.

Stets hat die Ankunft von Migranten auch Unbehagen und Feindschaft ausgelöst – in Deutschland nicht anders als in Frankreich oder auch in den USA. Migranten sind gewissermaßen die Boten der neuen Unübersichtlichkeit – werden aber immer wieder als die Botschaft genommen.

Der Epochenbruch von 1989 wird unter anderem auch eine verstärkte Ost-West-Migration zur Folge haben. Und es wird viele geben, die in den Migranten die Ursache für all die neuen Probleme sehen. Der in ganz Europa verbreitete Rechtsradikalismus ist auch ein Versuch, Schuldige für das neue Durcheinander ausfindig zu machen. Man darf dabei im übrigen nicht übersehen, daß die neue rechte Politik der rücksichtslosen Besitzstandswahrung die unterschiedlichsten Akteure und Schichten versammelt: Verteidiger realer Besitzstände ebenso wie Verteidiger imaginärer, subproletarische Schichten wie auch klassische Facharbeiter, die bisher stets zur Sozialdemokratie tendierten.

Italiens „Ligen“: rassistisch und föderal

Fast überall in Europa hat diese mentale Wendung nach rechts auch parteipolitische Konsequenzen gehabt. Schon hier wird deutlich, daß in Gestalt des neuen Rechtspopulismus ein alter europäischer Konflikt wieder auflebt: der zwischen Universalismus und Partikularismus.

Am klarsten erkennbar ist das am Beispiel der „Lega Nord“ in Italien. Denn hier wird endgültig sichtbar, daß es sich um ein modernes Phänomen, um einen modernen Partikularismus handelt, der kaum noch etwas mit der herkömmlichen rechten Programmatik zu tun hat. So argumentiert die „Lega Nord“ gerade nicht national; sie propagiert (genauer: propagierte) vielmehr den Abbruch des nationalstaatlichen Versuchs in Italien, unter anderem mit dem keineswegs abwegigen Argument, mehr als hundert Jahre nationaler Einheit hätten dem Süden des Landes keine Entwicklungsperspektiven eröffnet und dem Norden nur geschadet. Die „Lega Nord“, die gerade nicht nur die Ewiggestrigen versammelt, ist eine Bewegung der Besitzstandswahrung: Der reiche Norden soll sich von der Mitte und vor allem vom armen Süden abkoppeln und Anschluß an den prosperierenden Norden Europas suchen. Die „Lega Nord“ vereint in sich eine eigentümliche Mischung – die Fremdenfeindlichkeit gehört ebenso zu ihrem Programm wie der Föderalismus. Darin könnte sie – und nicht der grobschlächtige, an der Vergangenheit orientierte Rechtsextremismus der „Republikaner“ – richtungsweisend sein.

Schafft ein, zwei, viele Identitäten...

Vieles scheint mir darauf hinzuweisen, daß sich der heute grassierende deutsche Rechtsradikalismus deutlich von dem alten Rechtsradikalismus der dreißiger Jahre unterscheidet. Er verfügt weit weniger als sein Vorgänger über ein klar umrissenes Ziel; alles, was er an Argumenten anführt, klingt nach Vorwand und Kostümierung. Er kommt sowohl von den Rändern der Gesellschaft wie aus der Mitte, sowohl von Marginalisierten wie von denen, die ganz normal erscheinen. Allen Versuchen zum Trotz, die rechtsradikale Gewalt aus sozialen Ursachen erklären zu wollen, gilt: Dieser Rechtsradikalismus zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß er sozial nicht erklärbar ist. „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“: Parolen dieser Art drücken nicht so sehr ein Programm aus. Viel eher geht es um die aggressive Wendung eines Lebensgefühls. Der Rechtsradikalismus ist auch Produkt dessen, was man die „extreme Normalität“ dieser Gesellschaft nennen könnte. Er drückt eine gesellschaftliche Implosion aus, keine Explosion. Er kommt gewissermaßen aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft.

Er stellt mit seiner radikalen Verweigerung von Vernunft und Begründung eine Gesellschaft, die wie keine zuvor im Begründen geübt ist, auf eine schwere Probe. Und er ist wohl auch als Versuch zu sehen, in einer Zeit, die es den begründungslosen Gemeinschaften immer schwerer macht, eben solche Gemeinschaften zu schaffen. Insofern ist er, auch wenn er das weit von sich weisen würde – ein Produkt des Wertewandels und der Pluralisierung der Lebensstile. Ebenso profitiert er vom Niedergang herkömmlicher politischer Sicherheiten. Nur noch rechts artikuliert sich heute der – zwei Jahrhunderte lang tragende – agonale politische Impuls.

Hans Magnus Enzensberger hat von einem „molekularen Bürgerkrieg“ gesprochen, der heute längst Realität sei. Und er fügte hinzu, ganz offensichtlich sei der Universalismus eine stumpfe Waffe im Kampf gegen die Gewalt. Ich denke, es wäre falsch, den alten Konflikt zwischen Universalismus und Partikularismus derart von der Tagesordnung zu nehmen. Sehr wohl geht es weiterhin um Universalismus – freilich um einen Universalismus, der fähig ist, dem Partikularen Raum zu geben. Ganz so, wie es der amerikanische Philosoph Michael Walzer formuliert hat: „Wenn ich mich sicher fühlen kann, werde ich eine komplexere Identität erwerben, als es der Gedanke des Partikularismus nahelegt. Ich werde mich selbst mit mehr als einer Gruppe identifizieren; ich werde Amerikaner, Jude, Ostküstenbewohner, Intellektueller und Professor sein. Man stelle sich eine ähnliche Vervielfältigung der Identitäten überall auf der Welt vor, und die Erde beginnt, wie ein weniger gefährlicher Ort auszusehen. Wenn sich die Identitäten vervielfältigen, teilen sich die Leidenschaften.“ Thomas Schmid

Wochenpost.

Stark gekürzter Aufsatz aus dem dieser Tage erscheinenden „Piper aktuell“-Taschenbuch: „Der neue alte Rechtsradikalismus“, hrsg. von Ulrich Wank

Der Autor, ehemals Berater Cohn-Bendits im Amt für Multikulturelle Angelegenheiten, leitet heute das Kulturessort der