„Wir zeigen, wer Herr im Hause ist“

Nach dem Mord an einem jüdischen Siedler proben Israels Kolonisten in den besetzten Gebieten den Aufstand: Mit aller Gewalt attackieren sie die Palästinenser. Und mit aller Gewalt torpedieren sie Ministerpräsident Rabins Friedensprozeß.

Zu „Vergeltungs- und Strafaktionen“ gegen die palästinensische Bevölkerung haben die Führer der jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten aufgerufen, nachdem einer der ihren, Haim Mizrahi, am vergangenen Freitag ermordet wurde. Zugleich mobilisieren sie den Protest gegen die Verhandlungen mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Seitdem die israelische Regierung im September das „Gaza-Jericho-Abkommen“ über eine Teilautonomie dieser Gebiete unterzeichnet hat, war es den Siedlern bisher nicht gelungen, eine massivere Widerstandsaktion gegen das „Gaza-Jericho Vorab“- Projekt zu inszenieren, auf das eine beschränkte palästinensische Selbstverwaltung auf der israelisch besetzten Westbank folgen soll.

Gleich nachdem Haim Mizrachi – offensichtlich von einigen Mitgliedern der islamischen Hamas- Bewegung – aus der Siedlung Beit El ermordet wurde, blockierten bewaffnete Siedlertrupps die Hauptstraßen der Westbank und bewarfen die besonders gekennzeichneten Autos der Palästinenser mit Steinen.

In der Stadt El-Bireh in der Nähe der Siedlung Beit El wurden Autoreifen durchstochen und Privatwagen in Brand gesteckt. Dort, wo sich der Mord ereignete, errichteten die Siedler Zelte und verkündeten die Gründung einer neuen jüdischen Kolonie. Im Laufe des Wochenendes wurden nachts zahlreiche arabische Häuser in der Umgebung von Ramallah mit Steinen beworfen oder angezündet.

Augenzeugen in El-Bireh berichten, daß patrouillierende Militärs keine ernsten Versuche unternahmen, die randalierenden Siedler zu vertreiben. „Wenn unsere Kinder Steine werfen, werden sie sofort eingesperrt. Wenn aber bewaffnete jüdische Siedler Palästinenser angreifen, schauen die israelischen Soldaten nur in die andere Richtung“, sagte eine ältere Frau in El-Bireh, deren Familie und Haus in der Nacht auf Sonntag angegriffen wurden. Einige Siedler wurden zwar verhaftet, kamen aber kurz danach wieder auf freien Fuß. Um Journalisten und Fotografen fernzuhalten, erklärte die Besatzungsbehörde verschiedene Teile des Westufers zur „geschlossenen Militärzone“.

Rechtsanwalt Ziad Abu Ziyad, der die Palästinenser in der Sonderkommission für vertrauensbildende Maßnahmen bei den Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der PLO im ägyptischen Taba vertritt, verurteilte das „gangsterhafte Verhalten jüdischer Siedler“, die ihre Aktionen jetzt vor allem auf die allmorgendliche Sperrung aller Straßen in der Westbank und im Gaza- Streifen, die nach Israel führen, verlegt haben. Damit sollen palästinensische Tagelöhner daran gehindert werden, ihre Arbeitsplätze zu erreichen.

Auch gegen solche Sabotageakte wurden seitens des Militärs bisher keine ernsten Maßnahmen ergriffen. In der Regierung verlangten einige Minister, daß die PLO einerseits und israelische Behörden andererseits gegen ihre je eigenen Extremisten vorgehen, um weitere Provokationen gegen den Friedensprozeß zu verhindern oder wesentlich einzuschränken. Wie aber die PLO – noch ohne eigene Polizei und ohne andere Mittel zur Einflußnahme auf die palästinensische Opposition gegen das Abkommen mit Israel – solche Maßnahmen durchsetzen kann, ist offen.

Gleichzeitig hat Rabin derzeit keine Lust auf eine ernste Konfrontation mit den rechtsextremen Siedlern und den rechten Oppositionsparteien überhaupt. Ihnen hat er ja wiederholt versprochen, daß die Abkommen mit der PLO auf absehbare Zeit keine Veränderungen für die Siedlungen und Siedler sowie deren verläßliche Absicherung durch israelische Truppen mit sich bringen.

Jedenfalls hat Rabin die Siedler zwar verbal angegriffen – ihnen aber gleichzeitig in den Tagen und Nächten nach dem Mord von Betel auch recht freimütig Gelegenheit zum „Austoben“ gegen die Palästinenser gegeben. Erst jetzt wird er wohl, auch angesichts seines bevorstehenden Besuchs in Washington, auf eine „Rückehr zur alten Ordnung“ in den besetzten Gebieten bestehen – in dem komplizierten Verhältnis zwischen Siedlern, Armee und Palästinensern.

Minister Jossi Sarid, der dem linksliberalen Meretz-Bündnis angehört, meinte, daß die Siedler gar nicht aus Trauer oder Wut über den Mord an Mizrachi toben, sondern einfach deshalb, weil sie ihre politischen Ziele gegen die Regierung durchsetzen wollen. Als sich die Vertreter Israels und der PLO gestern zur vierten Runde ihrer Verhandlungen im ägyptischen Grenzort Taba trafen, standen sie natürlich unter dem Eindruck der bedrückenden Ereignisse in den besetzten Gebieten. Denn diese hatten wieder deutlich gemacht, wie fragil der Friedensprozeß ist. Denn das „Gaza-Jericho-Abkommen“ hat zahlreiche Probleme unberührt oder offen gelassen, so die Frage der Zukunft der zahlreichen jüdischen Siedlungen auf der Westbank und im Gaza-Streifen. Den Palästinensern, die noch immer vergeblich auf der unverzüglichen Freilassung aller ihrer politischen oder Kriegsgefangenen aus israelischen Gefängnissen bestehen, müssen jetzt hören, daß es die israelische öffentliche Meinung – angesichts der Ereignisse in den besetzten Gebieten – gegenwärtig nicht möglich mache, eine größere Anzahl von palästinensischen Gefangenen auf freien Fuß zu setzen.

Die Verhandlungen in Taba sollen bis zum 13.Dezember abgeschlossen sein, um die planmäßige Übergabe von Gaza und Jericho an die Palästinenser zu ermöglichen. Aber bisher konnte diesbezüglich noch kein einziger konkreter Beschluß in Taba gefaßt werden. Auf beiden Seiten wachsen Ungeduld und Unzufriedenheit über die fehlenden Resultate und die vielen enttäuschten Erwartungen, die an das in Oslo getroffene Abkommen geknüpft wurden. Amos Wollin, Tel Aviv