Hollandgang als Rettungsanker

■ Eine Dokumentation deutscher Gastarbeiter in Holland

„...es wimmelt wieder von Fremden, die ihre Heimat verlassen haben, um hier für schnelles Geld Gras zu mähen. Nach einigen Wochen harter Arbeit kehren sie – mit gut gefüllten Geldeuteln – nach Hause zurück, um ihrer daheimgebliebenen Familie ihren Lohn zu schenken.“ (Zaanlandscher Courant, 29.Juni 1887).

Heute würde man sie wohl Gastarbeiter nennen – vielleicht auch Wirtschaftsflüchtlinge oder Wohlstandsemigranten – die Hunderttausenden Deutschen, die sich über drei Jahrhunderte jeden Sommer auf den Weg machten, um ihr wirtschaftliches Glück im benachbarten Holland oder in Westfriesland zu suchen.

Zu Tausenden schnürten sie bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts ihre Bündel in Westfalen, im Münsterland, in Hannover oder in Ostfriesland – die meisten von ihnen junge und kräftige, aber arme Männer. Zum Abschied die Hüte schwingend, mit dem Spazierstock in der Hand, wanderten sie Richtung Westen, um am Wohlstand ihrer Nachbarn Teil zu haben und so der desolaten Lage in Deutschland nach dem Ende des 30jährigen Krieges zu entgehen. Der sogenannte „Hollandgang“ wurde für viele zum Rettungsanker.

„Wanderarbeit jenseits der Grenze – 350 Jahre Geldverdienen im Ausland“ – unter diesem Titel veranschaulicht das Westfriesische Museum im niederländischen Hoorn nördlich von Amsterdam in diesen Wochen, welchen Beitrag die sogenannten „vreemdelingen“ schon vor Jahrhunderten zur heimischen Wirtschaft geleistet haben. Denn, so lautet eine der Ausstellungstafeln: „Fremde gehörten schon seit Jahrhunderten zum Alltag in unserem Zusammenleben.“

Verglichen mit den deutschen Nachbarn waren die Niederlande im 17. Jahrhundert ein reiches Land: Der Handel blühte, der Fischfang boomte, die meisten Landwirte hatten ein Auskommen. Auf dem platten Land im Westen Deutschlands sowie an der norddeutschen Küste hingegen herrschten Armut und Hunger. Die Kunde vom vermeintlich luxuriösen Leben in Westfriesland und Holland sprach sich schnell herum. Ein Schreiberling schwärmte 1723 nach seiner Rückkehr von einer Reise nach Nijmegen in höchsten Tönen von den „weiten und mit fettem Vieh besetzten Wiesen oder schön und dicht aneinander gelegenen Dörfern, prächtigen Gärten... Die Einwohner sind zahlreich, beschäftigt und begütert.“

Und so machten sie sich auf den Weg – mit bis zu 30 Kilo Gepäck auf dem Rücken traten jährlich geschätzte 30.000 „Hollandgänger“ einen bis zu 300 Kilometer langen Fußmarsch über die Grenze an. Wer etwas mehr Geld hatte, bestieg in Bremen das Schiff nach Amsterdam oder Groningen. Auf niederländischen Märkten verkauften sie ihre Arbeitskraft. Die Glücklicheren hatten bereits eine Adresse und verbrachten jede Saison am gleichen Platz.

Auf den Weiden Nordhollands verdingten sich die deutschen Wanderarbeiter als Grasmäher, auf den Fischkuttern als Herings- oder Walfischer und in den Mooren als Torfstecher. Die Arbeitsbedingungen waren schlecht, die Unterbringung lausig, und der Lohn für die getane Arbeit wurde oft erst am Saisonende ausbezahlt. Wer krank wurde, und das wurden viele, wurde mit der sogenannten „Krüppelfuhre“ nach Hause gebracht – Kranke und Invalide wurden auf Ackerwägen von Gemeinde zu Gemeinde bis an die Grenze gefahren; ein Unternehmen, bei dem viele ihr Leben ließen. Im 19. Jahrhundert errichteten die Hollandgänger ihre eigene Krankenversorgung im Gastgeberland: Deutsche Wanderprediger eröffneten in den Moorgebieten Krankenhäuser für ihre Landsleute.

Die meisten Saisonarbeiter, die im Sommer bis zu 16 Stunden unter Akkordbedingungen Gras mähten oder bis zur Hüfte im kalten Wasser stehend Torf stachen, waren sogenannte Heuerleute, landlose Bauern, die gezwungen waren, gegen Geld und Dienste ein kleines Stück Land zu pachten. Ihre Einnahmen waren oft so gering, daß sie sich nach Nebeneinkünften umsehen mußten. Die Niederlande boten sich hierfür auch wegen des früh entwickelten Geldmarktes an.

Doch die wahrhaft lukrativen Jobs blieben auch damals schon den Einheimischen vorbehalten. Die Deutschen durften die Hilfsarbeit verrichten. Insbesondere die Handelsflotte der Vereinigten Ostindischen Kompanie griff im 18. Jahrhundert gerne auf billige deutsche Arbeitskräfte zurück, die mit sieben bis elf Gulden im Monat abgespeist wurden. Matrosen bei der Walfischerei kamen am Monatsende mit der dreifachen Summe zurück. Bei einer Meuterei gegen die miserablen Arbeitsbedingungen auf dem Frachter „Nijenburg“ im Jahre 1763 waren von den 34 festgenommenen Besatzungsmitgliedern 29 Deutsche – 18 von ihnen wurden aufgehängt.

Erst als im 19. Jahrhundert die wirtschaftlichen Bedingungen auf dem platten Land in Deutschland besser wurden, nahm die Zahl der Hollandgänger ab. Auch der Aufbau einer eigenen Fischereiflotte an der ostfriesischen Küste hielt viele vom Gang über die Grenze ab. Der Spieß drehte sich um – fortan kamen die Westfriesen und Holländer ins boomende Deutschland: als Fischer, Netzflicker und Faßmacher. Heute ist der Hollandgang so gut wie vergessen – doch noch im Inflationsjahr 1923 erinnerte eine Banknote im Emsland an vergangene Zeiten mit der Aufschrift: „War in der Heimat bittere Not, in Holland gab's Verdienst und Brot.“ Jeannette Goddar

Die Ausstellung „Werken over de grens“ ist bis zum 9. Januar 1994 im Westfries Museum in Hoorn zu sehen. Im kommenden Jahr wandert die Ausstellung ins Emsland- Museum in Lingen.