: Theater in der Pappnasenmetropole
Reinshagens „Die fremde Tochter“, Schwabs „Präsidentinnen“ und Shakespeares „Troilus und Cressida“ zur Spielzeiteröffnung in Mainz ■ Von Jürgen Berger
Elli lebt jetzt zusammen mit den sogenannten Poretanern in einer Gegenwelt zur konsum- und seuchengeplagten Gesellschaft, mitten in einem aus den Fugen geratenen Europa in nicht allzuferner Zukunft, heute. Die Poretaner jedenfalls verhalten sich, als sei Assisi in ein krisen- und fiebergeschütteltes Mainhattan verlegt worden und als kümmerten sich Großstadtfranziskaner um alle Gestrandeten und Aussätzigen der Stadt. Elli hat sich ihnen auch deshalb angeschlossen, weil sie ihrer Mutter entkommen will, jetzt allerdings sieht es so aus, als hätte sie sich, wie die anderen Poretaner, in sich selbst verstrickt. Die unverdaute Jugend macht ihnen zu schaffen, und dann ist da Totilla, ihr Chef, ein Eiferer und mehr Feldwebel als Guru. Sie halten es nicht mehr aus, wollen weg, kommen aber doch wieder zurück zu Totilla und zerbrechen schier am Gruppenzwang des Großstadtordens. Es ist ein merkwürdiges, lebloses Stück, das Gerlind Reinshagen Ende der 80er Jahre geschrieben hat. Uraufgeführt wurde es von Christof Nel Anfang des Jahres in Basel, in Mainz hat Michael Helle jetzt die deutsche Erstaufführung gewagt. Seit Anna Badora dort Schauspielchefin ist, steht die gesamteuropäische Pappnasenmetropole nicht nur für alljährliche Schunkelanfälle, sondern auch für bewegliches und bewegendes Theater. Die Chance war also groß, daß Reinshagens Stück belebt wird.
Sie selbst meint, sie habe sich in der „Fremden Tochter“ vor allem mit dem problematisch gewordenen Verhältnis des einzelnen zur Gruppe, dem „Kampf des Individuums gegen die Übermacht der Meinungen, Stimmen, Strömungen“ auseinandergesetzt. Das Ergebnis ist ein Zwitter, als sei eine Parabel über eine Welt, die an sich selbst zugrunde geht, mit einem Zeitstück gekreuzt worden. Christof Nel betonte in Basel die Randfiguren (Ellis Mutter beispielsweise war auf schrill-parodistische Weise bieder), insgesamt allerdings krankte die Uraufführung am statuarischen Block der Poretanerclique, der Gerlind Reinshagen zu allem Unglück auch noch chorisches Sprechen mit auf den Weg gab. In eine fremde Welt der Ahnungen, Träume, Horrorvisionen soll das führen und hat einen Hang zum Lyrischen, ohne jemals dort anzukommen.
In Mainz treten diese Passagen in den Hintergrund, wodurch die Poretaner an Farbe gewinnen. In einem wuchtigen graugrauen Tarkowski-Maschinenraum findet die „Lost Generation“ sich zum täglichen Ritual, und Helle schafft es, die Verlorenheit der einzelnen spürbar werden zu lassen. Überzeugend Eva Spott als Elli, zuerst naiv schwärmend und heilswillig, dann in einen der Poretaner verliebt, die allesamt von Studierenden der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst gespielt werden. Auffallend Sebastien Jacobi als Klaster. Mit ihm zusammen vergißt Elli während eines schön- akrobatischen Strickleiter-Schäferstündchens ihre Mission. Klaster allerdings macht sich davon in die „normale“ Welt, Elli scheint am Ende nur noch Hülle zu sein, wirkt geistesabwesend, ist abgemagert. Dann macht sie ernst und ersticht Totilla.
Mit den um die Poretaner gruppierten Figuren und vor allem mit der verrückten Oda konnte Michael Helle weniger anfangen – ob das Publikum sich mit diesem spröden Spielplanposten anfreunden können wird, steht auf einem anderen Blatt. Die Zeichen stehen allerdings gut, denn in Mainz herrscht derzeit eine theaterfreundliche (und manchmal vielleicht auch schon eine etwas zufriedene) Atmosphäre, wie man gleich um die Ecke erfahren kann. Dort liegt, immer noch in der Innenstadt, das TIC, ehedem ein Kino und in der letzten Spielzeit für nicht mehr als eine Million zum kleinen Studiotheater umgebaut. Auch dort fließt Blut, wie es sich im Theater gehört, vor vier Wochen hat man hier die Spielzeit des Schauspiels mit Werner Schwabs „Die Präsidentinnen“ eröffnet. Geht man mitten in der Woche zur ungünstigsten Theaterzeit dorthin, kann es passieren, daß man unter überwiegend jugendlichem Publikum in einer ausverkauften Vorstellung sitzt.
Das liegt nicht nur an der klugen Stückwahl („Die Präsidentinnen“ ist das bisher beste Stück aus der Schwabschen Fäkaliendramenfabrik und entwickelt sich nicht umsonst zum Bühnenrenner), mit Monika Steil wurde auch eine interessante junge Regisseurin nach Mainz geholt, die ein Trio Infernale in der Schwabschen Küchenkirche zusammengebraut hat, das in ernsthafte Konkurrenz zur hochgelobten Inszenierung im nahen Frankfurt treten kann. Brigitte Goebel ist eine herrlich verkniffene Erna, die sich das letzte Stück Klopapier vom Arsch wegspart, Marzena Maria Rey ein köstliches, leicht debiles Töchterchen Mariedl mit dem merkwürdigen Hang, verstopfte Klos per Hand zu entsorgen. Einziges Haar in der Suppe: Monika Dortschy chargiert als lebenslustige Grete hin und wieder zu offensichtlich, und man hat das ambivalente Vergnügen, ein von Schwab geschriebenes, aber wieder gestrichenes Show-Ende serviert zu bekommen. Auch der Jungfäkale wollte sich partout in die inzwischen lange Reihe von Dramatikern und Dramatikerinnen einreihen, die die Idiotie von TV-Rateshows auf der Bühne persiflieren. Die Lektorin allerdings setzte sich durch, in diesem Falle zum Nutzen des Theaters.
Daß Anna Badora die junge Regisseurin für diese Inszenierung nach Mainz holte, zeigt, welches Gespür für Regietalente die Schauspielchefin hat, sie selbst stieg zur Spielzeiteröffnung mit Shakespeares „Troilus und Cressida“ in den Ring. „Helena go home“ steht als Graffiti auf der trojanischen Stadtmauer, dann kommt Cressida und trällert den Spruch vor sich hin. In Troja ist Helena (wegen ihr schlagen Trojaner und Griechen sich schon seit Jahren die Köpfe ein) nicht einmal mehr Anlaß zum Spott, wenn Shakespeare sie dann ein einziges Mal auf die Bühne läßt, inszeniert Anna Badora den antiken als modernen Mythos. „I wanna be loved by you“ seufzt Heidi Ecks und windet sich als griechische Marilyn um Paris. Nichts gegen Marilyn in Mainz, viel allerdings gegen eine als Bombe gedachte Szene, die sich als Sternchenregen in einem von Shakespeares nüchternsten Stücken entpuppt — mit griechischen Kriegshelden in der Version von Maulkasper und der Liebe als Handelsobjekt.
Cressida ist die Tochter des trojanischen Sehers Calchas und wird von den Trojanern an die Griechen ausgeliefert, nicht mehr ganz Kind, erwachsen allerdings auch nicht. Elke Wollmann kommt in Mainz als gemäßigte Punkerin und spielt von Anfang an mit, daß sie es mit der Liebe nicht so genau nimmt. Zu den starken Momenten der Inszenierung zählt, wenn der trojanische Königssohn Troilus sich ein Herz faßt und die beiden Liebe üben: Troilus etwas naiv, Cressida ernsthaft, aber eben doch mit einer Spur Lüsternheit. Die gestandenen griechischen Heerführer, von Agamemnon über Nestor zu Odysseus, sind Safarireisende, denen die Kontrolle über den Abenteuerurlaub zu entgleiten droht, der arrogante Achill etwa liegt apart im Tigermantel auf der faulen Haut. Allerdings – die Mainzer Schauspielchefin kann nicht darüber hinweg täuschen, daß sie einen Shakespeare in Mittellage serviert und längst nicht so bei der Sache ist, wie bei ihrer Grillparzer-„Medea“ zur Eröffnung der letzten Spielzeit.
Zu selten hat sie den fein gestäubten Sprengstoff entzündet, den Shakespeare seiner Geschichte über die wahren Motive von Krieg und Liebe, Schlachten und Küssen beigemischt hat, wirklich interessant wird es lediglich bei Randfiguren wie dem Griechen Thersites, den Winfried Küppers als Tretmine im Griechenlager spielt. Er rutscht als Krüppel über die Bühne, mischt die satten Griechen auf, und dann gibt's gar einen Seitenhieb gegen aktuelle Großmannspolitik: „Mit Ajax steh'n wir siegreich da in Troja und Somalia“ improvisiert Küppers und meint etwas später in Richtung der eitlen Griechen, daß es bei ihnen mit dem Denken manchmal genauso langsam gehe wie mit dem Bau des neuen Kleinen Hauses in Mainz.
Gerlind Reinshagen: „Die fremde Tochter“. Regie: Michael Helle. Ausstattung Bernd Damovsky. Mit Eva Spott, Sebastien Jacobi, Andreas Zimmermann, Heidi Züger u.a. Staatstheater Mainz. Weitere Vorstellungen: 4., 7., 14., 17.11.
Werner Schwab: „Die Präsidentinnen“. Regie: Monika Steil. Ausstattung: Birgit Voß. Mit Brigitte Goebel, Monika Dotschy, Marzena Maria Rey. Staatstheater Mainz. Weitere Vorstellungen: 20., 28./11.
William Shakespeare: „Troilus und Cressida“. Regie: Anna Badora. Bühne: Klaus Baumeister. Kostüme: Ursula Renzenbrink. Mit Elke Wollmann, Karl Heinz Herber, Uwe Zerwer, Wilhelm Schlotterer, Michael Abendroth. Staatstheater Mainz. Weitere Vorstellungen: 5., 10., 21.,11.
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