■ Die Grünen und ihre Personalrekrutierung
: Wo ist der sanfte Besen?

Joachim Raschkes Artikel über die Grünen und deren Personalrekrutierung (taz vom 26.10.93) läßt den Verdacht aufkommen, ein distanzierter Wissenschaftler sei im Laufe seiner Beobachtungen der Grünen Teil des Prozesses geworden, den er beobachtet mit dem Ergebnis, daß er grün-interne Deutungsmuster zu Lasten wissenschaftlicher Analyse übernimmt.

Raschke stellt fest, daß das politische Kapital wahrgenommener Politiker in der ständig zu beweisenden Fähigkeit besteht, beim Kommunizieren öffentliches Interesse zu finden. Er befürchtet, daß Personen, die eine öffentlich wahrnehmbare Position haben wie Antje Vollmer, Waltraud Schoppe und Hubert Kleinert, Schwierigkeiten bei der Kandidatenaufstellung haben werden. Diese Gefahr führt er zurück auf den Glauben der Grünen an Fachleute und local heroes und darauf, daß grün-intern die Vorstellung dominiere, alle seien gleichermaßen geeignet, Abgeordnete zu werden.

Raschke teilt eine Vorstellung, die viele prominente Grüne über die Gefahren ihrer Prominenz haben. Diese Vorstellung deckt sich aber nicht mit den Realitäten. Die Grünen waren die Partei, die früh begriffen hat, daß Politik in hohem Maße abhängt von medialer Wirksamkeit. Die Grünen sind Kinder der Mediendemokratie. Sie waren und sind Meister der medialen Inszenierung. Wie bei keiner anderen Partei werden Personen nach Gesichtspunkten der Medienwirksamkeit aufgestellt. Der local hero hat ebenso wie der Fachmann nur dann eine Chance, Bundestagskandidat zu werden, wenn ihm ein öffentlichkeitswirksames Merkmal anhaftet, sei es eine ungewöhnliche Lebensbiographie, sei es ein skurriles Wesen, sei es ein schrulliges Erscheinungsbild. Bei den Grünen zählen Bekanntheit und vermutete Medienwirksamkeit und sonst gar nichts. Das Problem der Grünen ist weniger, daß Bekanntheit nichts zählt, sondern daß Bekanntheit alles ist. Trotzdem sind Vollmer, Schoppe und Kleinert bei der Listenaufstellung gefährdet. Wie reimt sich das zusammen?

In Erwägung der Gefahren, die jeder Partei als bürokratische Organisation drohen, wollten die Grünen in der Vergangenheit mit dem Mittel der Rotation und dem Grundsatz der Trennung von Amt und Mandat verhindern, daß sich die Partei gegenüber gesellschaftlichen Einflüssen abschottet und Politik sich deswegen reduziert auf die Verwaltung des Partei- und Fraktionsapparates. Der Rotationsmodus erwies sich als wenig überzeugend. Er war bürokratisch- dogmatisch, weil er die unterschiedlichen Qualitäten der Personen unberücksichtigt ließ. Er gab Personen eine Chance, Abgeordnete zu werden, die besser nach einem Tag aus dem Parlament rotiert wären; er hinderte Personen, künftig weiterhin Abgeordnete zu bleiben, die sich auch am Ende einer Legislaturperiode als innovativ und politisch wirksam erwiesen hatten.

Der Grundsatz der Trennung von Amt und Mandat sollte Machtkonzentration verhindern. Faktisch bewirkte er jedoch lediglich, daß Parteiämter im öffentlichen und parteiinternen Bewußtsein als weniger wert angesehen wurden. Das Experiment der Rotation und das der Trennung von Amt und Mandat ist gescheitert. Geblieben ist die Sehnsucht nach dem, was in den USA mit change umschrieben wird, und die zutiefst demokratische Vorstellung, daß Wechsel im Führungspersonal einer Partei nicht Selbstzweck, sondern Voraussetzung und Bedingung für die Offenheit einer Partei gegenüber der Gesellschaft ist. Diese Vorstellung, die Ausdruck der „grünen Seele“ ist, kollidiert bei Listenaufstellung für Parlamentswahlen mit der politisch sinnvollen Erwägung, Personen zu präsentieren, die bereits mediale Bekanntheit erlangt haben. Die Austragung dieses Widerspruchs macht das eigentliche Problem der Grünen aus, weil er nach dem Muster aufgelöst wird, daß zwei prominente Personen gewählt und die dritte prominente Person für die Wahl der beiden ersteren abgestraft wird. Bekanntheit hilft zweien von dreien und schadet deswegen dem dritten. In dieser anarchischen Form – die zudem regelmäßig bei der Person, die abgestraft wird, Bitterkeit erzeugt – kommt auf brutale Weise ein Stück Demokratie zum Vorschein.

Wer innerhalb der Grünen für den Wandel und zugleich für Kontinuität eintritt, kann weder wollen, daß alle Personen, die öffentlich bekannt sind, immer wieder gewählt noch, daß sie allein deswegen nicht gewählt werden. Wie kann der Balanceakt zwischen Wandel und Kontinuität demokratisch und zugleich sozial verträglich gestaltet werden?

Notwendig ist eine politische Diskussions- und Entscheidungskultur, bei der es möglich ist, die Individualität der einzelnen Kandidaten abzuwägen und die Interessen der Partei an Wandel und Kontinuität zu würdigen. Eine solche Kultur gibt es nicht. Je nach individuellem und taktischem Interesse stellen sich die einen als Opfer der Prominenz der anderen, die anderen als Opfer ihrer eigenen Prominenz dar. Was fehlt, ist der „Rat der Weisen“ im doppelten Sinne des Wortes, also ein Gremium, das moderierend auf den Prozeß der Entscheidungsfindung einwirkt mit dem Ziel, daß alle relevanten Gesichtspunkte bei der Listenaufstellung berücksichtigt und dadurch Legitimität erzeugt wird.

Ein solches Gremium stellen regelmäßig die Vorstände nicht dar. Im Gegenteil: Die Trennung von Amt und Mandat hat dazu geführt, daß das Amt Durchgangsstufe für das Mandat geworden ist und die Amtsinhaber zugleich Konkurrenten um aussichtsreiche Listenplätze sind. Nicht die Besenstiel- Ideologie ist das Problem der Grünen; eher das Fehlen eines (sanften) Besens. Uwe Günther

1984–90 Justitiar der Bundestagsfraktion der Grünen; von 1990 bis Ende 90 Fraktionsgeschäftsführer