„Federico hat die Klinik verlassen“

So einfach durch den Tod wollen sich die Italiener ihren Fellini nicht nehmen lassen. Soldaten und imposante Carabinieri wachen unter azurblauem Filmhimmel  ■ Aus Rom-Cinecittà Werner Raith

Die Inszenierung, kein Kommentator verzichtet auf den Hinweis, hätte „der Maestro“ nicht herrlicher einrichten können: Im SaalV der römischen Filmstadt Cinecittà – seinem bevorzugten Studio – wurde der strahlend azurblaue Himmel aus dem Film „Intervista“ von vor acht Jahren wieder entstaubt und an der Stirnseite hochgezogen. Im Raum, fein nach dem Goldenen Schnitt etwas hinter der Saalmitte auf vier Stufen mit ebenfalls himmelblauen Tuch, steht der Sarg. „Und die Soldaten“, fragt Rebecca neben mir, „haben die Angst, daß jemand den klaut?“

In der Tat – die Ehrenwache. Es wird ein Staatsbegräbnis geben, und da stehen normalerweise Soldaten Ehrenwache. Nun war Fellini ganz und gar kein militärischer Typ, also verfiel man auf eine Zwischenlösung – er wird von Mitgliedern der Polizeieinheiten bewacht.

Das aber führte zu einem Aufzug, der in seiner Lächerlichkeit wirklich aus einer Inszenierung Fellinis stammen könnte: vorne zwei ehrfurchtgebietend große Carabinieri in ihrer rotweißschwarzen Paradeuniform und Säbel, mit Zweispitz und Busch darauf, dahinter wie nicht ganz mit Ankleiden fertiggewordene Zuspätkommer zwei Stadtpolizisten, Weiblein und Männlein (man kommt angesichts des Größenunterschieds zu den Carabinieri um das Diminutiv nicht herum) in ihrem blassen blaugrauen Uniförmchen. Im Gegensatz zu den militärisch stramm dastehenden Vorderleuten deuten sie durch ständiges Gewichtverlagern und Fußverstellen heftige Beinschmerzen an.

Doch vielleicht sind die Ordnungsleute wirklich der Leichen- Sicherheit halber da. Nichts scheint in den letzten Jahrzehnten jemals die Italiener so mit Angst befallen zu haben wie der Gedanke, ihren Federico tatsächlich irgendwann zu verlieren. Presse wie auch die hier seit morgens um neun (und bis weit nach Mitternacht) am Sarg vorbeidefilierenden 70.000 Normalmenschen zeigen, wie hartnäckig sich die Italiener weigern, den endgültigen Tod ihres Maestro zur Kenntnis zu nehmen: Nicht „der Sarg“ oder „die Leiche“ wurde aus der Klinik UmbertoI herausgefahren und nach Cinecittà gebracht, nein, „Fellini hat gegen 21 Uhr die Poliklinik verlassen“, sagt der Sprecher des staatlichen Fernsehens RAI; was über ihn berichtet wird, hat sprachliche Präsensform, nie Vergangenheit. Und als gäbe es sonst nichts über den legendären Filmemacher zu zeigen, spielen die Fernsehstationen, drucken die Zeitungen nahezu unisono und stereotyp immer wieder nur das ab, was Fellini in seinen Filmen oder Interviews über den Tod oder das Leben danach gesagt – und worin er Hoffnung gemacht hat, daß das Hinscheiden so endgültig doch nicht sein kann. Sicherlich dreißigmal konnten wir auf den verschiedensten Sendern die Szene mit Roberto Benigni aus „La voce della luna“ sehen, wo der Darsteller in der Gruft sitzt und räsoniert, ob's denn nicht doch „irgendwo ein kleines Loch gibt zwischen Diesseits und Jenseits, wo man durchschlüpfen kann und mal gucken, wie's drüben aussieht – oder wie's herüben weitergeht“. Dann der Schwenk nach oben – wo sich tatsächlich so ein kleines Loch auftut. Unzählige Male durfte auch der – echte – Nachbar von Fellinis Familiengruft die Geschichte erzählen, als „Federico mir vorschlug: ,Wir sollten ein Loch zwischen unseren Gruften machen, dann können wir, wenn hier alles vorbei ist, bequem hin- und herschlüpfen und einen Plausch halten‘“.

Moral: Der Maestro glaubte selbst nicht an das wirkliche Ende, und was der Maestro sagte, ist in Italien nicht nur Gesetz, sondern, im Land nichteingehaltener Gesetze, viel mehr: Realität. Konsequenterweise wurde denn die Aufbahrung so gestaltet, daß der im Hintergrund aufgebrachte Himmel derart strahlend in den Raum hereinbricht, als wär's just das gesuchte Loch ins Freie. Die Identifizierung mit Fellini scheint total. Tatsächlich war er wohl der einzige, dem es jemals gelungen ist, alle Italiener zur Identifikation mit sich zu bringen. Niemals hat er sich frontal in politische Dinge eingemischt, auch wenn er schon mal, wie vor zwei Jahren, einen Wahlklampfspot für die Republikanische Partei gefilmt hat; aber das war eine Zeit, in der die gerade in die Opposition zum „Palazzo“ gegangene einstige Industriellenpartei ganze Hundertschaften Intellektueller um sich geschart hat. Oder er hat Aufrufe gegen ungerechte Verfolgungen im Rahmen der Terroristenhatz unterschrieben – wiederum wie alle anderen bedeutenden Intellektuellen auch. Doch in seinen Filmen ist von Politik nichts zu spüren, wenn sie Elend zeigen, dann nie in Form von Anklagen gegen die herrschende Klassen. Und dennoch konnte, wer wollte, seine eigenen Klagen an irgendwelche Szenen bei Fellini anhängen – er zeigte niemals selbst verschuldetes, sondern immer von irgendwelchen unvorhersehbaren Mächten herabgeschüttetes Unglück. Kein Wunder, daß das Fehlen dieses Totalisators nun 55 Millionen Waisenkinder produziert.

Traumtänzerei, Verschiebung der Wirklichkeit, Hingabe an eine irreale Welt und auf keinen Fall irritierende Nachfrage nach den eigenen Möglichkeiten zur Weltbewältigung – es sind, glaubt man ganz nüchternen Untersuchungen von Meinungsforschungsinstituten, die Tätigkeiten, denen die Mehrheit der Italiener besonders gerne nachgeht; und genau darin war Fellini eben der Meister, den niemand übertreffen konnte. Man konnte vor den Kinos beliebig viele Menschen fragen, was sie aus dem eben gesehenen „Fellini“ denn eigentlich mitnehmen, was sie verstanden haben – kaum einer hatte im Film eine Botschaft, eine durchgehende Aussage entdeckt, doch Bruchstücke blieben in Erinnerung, die eine oder andere der oft übergangslos zusammengestückelten Episoden, man konnte lachen, vergessen, sich selbst beweinen und alles ausblenden, was nicht ins eigene Image paßte – „magnifico“, „insuperabile“, „bellissima“ war's dennoch. Fellini als Italien pur, als Konglomerat unzähliger sympathischer Elemente, die niemals irgendwo ein Ganzes geben, aber jeden in Bann schlagen, der damit in Berührung kommt.

Doch vielleicht ist doch nicht alles Bruchstück, vielleicht ist Fellini wirklich jenes einigende Band – ...gewesen, wäre da beinahe herausgerutscht, doch das ist derzeit ein verbotenes Wort – das Band, das aus den Mosaikstückchen ein Ganzes macht. Anita Ekberg kommt und gibt dem Sarg ein Küßchen, ganz so, als läge der Meister nur im Bett, Marcello Mastroianni, Franco Rosi, sie alle haben eher die Miene des „Furbo“ auf, des Schlitzohrs, das weiß, daß der Mensch da im Sarg doch nur Komödie spielt, wie immer in seinem Leben. Und der Normalmensch schraubt seine Stimme hier im Raum nicht des Toten wegen ehrfurchtsvoll herab, sondern weil er die Dreharbeiten nicht stören will – „Federico hat uns heute hier zu sich eingeladen“, sagt eine Frau neben mir ernst und legt eine Rose auf die Stufen unter dem Sarg.

Man kann wenig dagegen einwenden, und wenn, wird man mit Fellinis Waffen geschlagen. Hat der Meister nicht selbst darauf hingewiesen, daß es nie ein Ende gibt? Doch: in keinem seiner Filme steht am Schluß das Wrt „Fine“. Wenn das kein fellinianischer Beweis ist, daß der Große beabsichtigt hat, weiterzuleben, allen schnöden Weltgesetzen zum Trotz.