■ Zur Aufregung um den jüngsten Aids-Skandal
: Wer stirbt, wer läßt wen sterben?

Das Wunderbarste am Bundespräsidenten-Kandidaten Steffen Heitmann ist dessen Gabe, mit kindlicher Unschuld Volkes Denken laut auszusprechen. So hilft nun auch beim derzeitigen „Aids-Skandal“ eine Weisheit des Präsidenten in spe weiter, wenn man sich die Frage stellt, warum ausgerechnet jetzt, nach mehr als einem Jahrzehnt Aids, wieder einmal Panik und Aktivismus herrschen. Minderheiten, dozierte Heitmann jüngst zum Stichwort Schwule, müßten eben „die damit verbundenen Nachteile“, die das In-der-Minderheit-Sein so mit sich bringe, gefälligst selbst tragen. Messerscharf gedacht, hat er uns damit – wieder unfreiwillig – auch die brillante Antwort darauf geliefert, warum sich hier in den vergangenen Jahren fast kein Nicht-Bluter über das Leid der 1.400 HIV-infizierten Bluter in Deutschland erregte. Öffentlichkeit, Gerichte und Staat gucken seit Jahren ungerührt zu, wie Versicherungen und Pharmafirmen mit langem Atem diese Menschen sich selbst zu Tode prozessieren lassen. Denn für Millionen Heitmänner und -frauen war klar, die Bluter sind halt eine Minderheit, ja seit Aids gar eine solche Schmuddel-Minderheit wie Junkies, Knackis, Huren und Schwule. Und das ist Pech. Pech für die.

Eine vergleichsweise winzige Anzahl verseuchter Präparate sorgt nun aber für Riesenwirbel. Denn theoretisch kann jeder einmal Operierte sie bekommen haben bzw. mit einem der Empfänger ungeschützt verkehrt haben. Nachteile für die Mehrheit? Das gilt nicht, das steht nicht in den Aids-Spielregeln.

Eine zweite zynische Scheinheiligkeit hinter dem derzeitigen Wirbel ist am besten mit Brechts uralter Frage, was schlimmer sei, das Ausrauben einer Bank oder der Besitz einer Bank, beschrieben: Vorgeblich wegen des hohen Guts Menschenleben werden Beamte gefeuert, ein Bundesamt zerschlagen, Razzien durchgeführt, böse Blutgangster gejagt und verhaftet. Dies betreiben dieselben Politiker und Medien, die angesichts einer jährlichen offiziellen Neuinfektionsrate von „nur“ 2.000 Menschen in diesem Land von einem „Erfolg im internationalen Vergleich“ sprechen und bereits daran denken, 1994 bundesweit lächerliche 14 Millionen Mark Aids-Gelder wieder zu streichen. Jede gesparte oder nicht zusätzlich gewährte Million aber kostet Menschenleben. Wer jagt deshalb die Einsparer? Und welcher Staatsanwalt ermittelt zwecks des Schutzes von Menschenleben gegen jene Juristen und Politiker, die aus egoistischen populistischen Gründen weiterhin verhindern, daß es etwa in unseren heroinverseuchten Gefängnissen endlich wenigstens saubere Spritzen für alle gibt? Es kommt halt doch erstens darauf an, wer stirbt – und zweitens wer sterben läßt. Tom Kuppinger

Freier Journalist in Berlin