Seit Monaten ist Bosniens Hauptstadt belagert, regieren dort Mangel und Schmerz. Gestern endete in der Trümmer- kapitale das erste Internationale Filmfestival: zwölf Tage lang Kultur als tägliches Brot Aus Sarajevo Thomas Schmid

„Es gibt uns. Wir sind am Leben.“

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Auch in Sarajevo nicht, wo nun schon wieder seit über drei Wochen kein Saft aus der Steckdose und kein Tropfen aus dem Hahn fließt. Und er lebt auch nicht nur von Ölsardinen, Pulvermilch und von dem, was sonst noch alles die UNHCR in die seit 19 Monaten belagerte Stadt einfliegt.

„Kultur ist, wie Nahrung und Medikamente, ein elementares Bedürfnis der Menschen“, schrieben die Organisatoren des ersten internationalen Filmfestivals von Sarajevo, das gestern zu Ende ging, empört nach Genf. Denn die Dependance der Hilfsorganisation der UNO im dalmatischen Split, wo täglich acht Transportmaschinen mit Hilfsgütern für die bosnische Hauptstadt starten, hatte Vanessa Redgrave, Volker Schlöndorff und sieben britische und deutsche Regisseure nicht mitfliegen lassen.

Doch wo der Präsident des Festivals, Haris Pasović, nichts als eine weitere Ausgeburt der fiesen Politik der hier weithin geschmähten Weltorganisation wittert, gibt es wahrscheinlich nur bürokratische Routine. Die Filmleute waren weder bei der Unprofor, der Schutztruppe der Vereinten Nationen, als Journalisten akkreditiert, noch hatten sie die begehrte blaue Karte, die die UNHCR Mitarbeitern humanitärer Organisationen ausstellt. Und auf dem Landweg ist Sarajevo nicht mehr zu erreichen. Seit zwei Monaten ist kein UN- Konvoi mehr angekommen. Die Straße, die vom Adriahafen Ploce das Neretva-Tal hinauf zur bosnischen Hauptstadt führt, ist unpassierbar, seit zwei strategisch wichtige Brücken gesprengt wurden. Wer aus Split kommt, gerät mitten ins Kriegsgebiet der inzwischen verfeindeten kroatischen und bosnisch-muslimischen Truppen. So blieben Sarajevos Filmer also unter sich. Nur der Franzose Romain Goupil und der Holländer Jochen van der Koeken waren in die belagerte Stadt gekommen.

„Das Filmfestival ist eine Antwort auf die Barbarei“, sagt Pasović mit eindringlicher, sanfter Stimme, ein Mann mit schütterem grauem Haar und randloser Brille. „Es ist eine Botschaft des Widerstands: Es gibt uns noch. Wir sind am Leben! Wir kämpfen für ganz Europa. Wenn ihr Europäer nicht merkt, daß der Balkan zu Europa gehört, habt ihr nicht begriffen.“

„Ja, die Bürger von Sarajevo wollen ihre multikulturelle, multiethnische, multireligiöse Stadt retten, sie kämpfen für das zivile Zusammenleben von Menschen verschiedener Konfession“, pflichte ich ihm bei, „gegen das nationalsozialistische Prinzip kultureller Homogenisierung, religiöser Entmischung, kurz: ethnischer Säuberung.“

„Und wo bitte sind die deutschen Intellektuellen?“ fragt Pasović mit schneidender Stimme und schimpft wie ein Rohrspatz auf HansMagnus Enzensberger, Günther Graß und Peter Handke, die „noch Salz in unsere Wunden streuen“. Und dann schreit er in einer plötzlichen Erregung, die man in dieser Stadt immer wieder erlebt. „Nennen Sie mir einen einzigen deutschen Intellektuellen, der gegen diese Schande Europas aufsteht, gegen die Schmach dieses ,zivilisierten‘ Europa, das dem Genozid an meinem Volk untätig zuschaut!“

„Daniel Cohn-Bendit hat auf dem Parteitag der Grünen...“

„Cohn-Bendit!“ unterbricht Pasović mit sarkastischem Lachen. „Cohn-Bendit ist 50 Jahre alt. Ich bin 31.“

Der Krieg, die ständige Anspannung eines Lebens unter dem Hagel von Granaten und den Schüssen der Sniper, scheinen ihm 20 Jahre geraubt zu haben.

„Wo sind die deutschen Intellektuellen?“

„Hinter dem Ende der Welt“, heißt, in Abwandlung eines Filmtitels von Wim Wenders, das Motto, unter dem das Festival von Sarajevo steht. Im ungeheizten Pressebüro – ein kahler, halbdunkler Raum in einem Gebäude, das durch Artilleriebeschuß stark beschädigt wurde – drückt man dem Ausländer ein Flugblatt in die Hand. „Zu dem Zeitpunkt, da Sie das hier lesen“, steht darin, „befinden Sie sich in einer der gefährlichsten Städte der Welt. Auf Sie warten Granaten, die jederzeit einschlagen können. Aber auch einige sehr gute Filme warten auf Sie.“

„Und passen Sie beim Kino Radnik auf die Sniper auf!“ hatte mir Pasović mit auf den Weg gegeben. Doch von den Hügeln jenseits der Miljaćka, des Flusses, der Sarajevo von Ost nach West durchfließt, können die serbischen Heckenschützen nicht mehr in die Djuro-Daković-Straße hineinschießen. Große aufeinandergeschichtete Container sollen die Kinobesucher beschützen. Trotzdem geht die Ballerei los. Ganz in der Nähe.

Die Polizisten, die am Eingang des Kinos die Taschen der Besucher durchsuchen, haben ein paar Feuerstöße aus ihren Maschinenpistolen abgegeben. Bloß in die Luft. Ein Zeichen dafür, daß das Kino voll ist. Rauhe Sitten in Sarajevo.

Die Traube der Enttäuschten löst sich auf. Wie über hundert andere, meist junge Leute ist auch Vesna umsonst gekommen. Über sieben Kilometer Fußweg hat sie auf sich genommen, um „Die Liebenden vom Pont Neuf“ zu sehen. Öffentliche Verkehrsmittel fahren längst nicht mehr. Und ein Taxifahrer hätte mindestens 25 Mark verlangt – den Preis für einen Liter Benzin auf dem Schwarzmarkt. Das entspricht im belagerten Sarajevo einem halben Jahreslohn, der allerdings nicht in harter Währung, sondern in bosnischen Dinars ausgezahlt wird, von denen man zur Zeit auf der Straße 150.000 hinblättern muß, um eine einzige Mark zu erhalten.

So ist Vesna also zu Fuß gekommen. Sie wußte, daß sie ohne Eintrittsbillet schlechte Karten haben würde. Aber wie so viele hoffte sie sich wenigstens einen Stehplatz ergattern zu können. Der Eintritt ist zwar umsonst, doch wer ein Ticket besorgen will, muß im Büro neben dem Kino bereits um acht Uhr früh anstehen. Um diese Zeit aber steht Vesna jeden Tag schon längst in einer anderen Schlange. Mit ihren vier Plastikbidons wartet sie oft zwei Stunden, bis sie am Schlauch steht, um die 20 Kilo Wasser den gefährlichen Weg über die Brücke, quer über den nach allen Seiten hin offenen Platz vor dem zerschossenen Hotel Bristol in ihr Viertel hochzuschleppen. Ihr entkräfteter Vater schafft es nicht mehr. Und die Mutter ist schon lange bettlägerig.

Oft reichen die 20 Liter Wasser für drei Personen nicht, um sich zu waschen, um Tee zu brühen, eine Suppe zu kochen, das Klo zu spülen und vielleicht die Pappe für einen „Kriegskuchen“ zu kneten: eine Masse aus Zucker, Mehl, Kakaopulver und Wasser. So geht Vesna eben oft zweimal am Tag mit ihren vier Eimerchen zum Schlauch.

„Die Menschen in Sarajevo sind doch keine Tiere, die man bloß mit Mehl und Reis zu füttern braucht.“ Auch Dana Rotberg ist empört, daß die UNO Schlöndorff und Redgrave nicht einreisen ließ. Sie wirft der Weltorganisation, die nach den Serben, den Tschetniks, wie sie sagt, faktisch einen zweiten Belagerungsring um Sarajevo gezogen habe, nicht nur neokoloniale Arroganz, sondern auch pathologische Kurzsichtigkeit vor. Daß man der ethnischen Säuberung in Bosnien nicht Einhalt gebiete, werde sich anderswo noch bitter rächen.

Die mexikanische Regisseurin hat die künstlerische Leitung des Festivals übernommen. Sie hat die 120 Filme, die während der zwölf Tage in drei Kinos der Stadt mit insgesamt über 900 Plätzen gezeigt werden, ausgesucht und zum allergrößten Teil selbst besorgt. Ihren „Angel de Fuego“ („Feuerengel“), der gestern, am letzten Tag des Festivals von Sarajevo, lief, zeigte sie in den vergangenen anderthalb Jahren in Cannes, München, Jerusalem, Tokio und Toronto. Den Auftrag, ein Programm zusammenzustellen, hat die Jungfilmerin, die vor drei Monaten in die Hauptstadt einflog, gerne übernommen. Auf den Reisen quer über den Erdball hatte sie zahlreiche Kontakte zu Kollegen, Veleihern und Produktionsfirmen geknüpft. Und im Unterschied zu ihren Kollegen in der belagerten Stadt konnte sie ja frei ein- und ausreisen, um Gespräche zu führen, zu verhandeln, zu überzeugen, zu faxen, zu telefonieren...

Für Sarajevos Bewohner ist jeder Film eine Premiere

Das Programm, das die Mexikanerin, die vorerst „bei diesem unbesiegten Volk“ in Sarajevo bleiben will, zusammengestellt hat, bietet eine bunte Mischung von Spiel-, Dokumentar- und Kinderfilmen aus aller Welt. Aus Deutschland sind Wim Wenders, Werner Herzog und Volker Becker vertreten, aus Polen Krzysztof Kieslowski (mit seinem in Venedig preisgekrönten „Drei Farben: Blau“; siehe auch Seite 12 in dieser taz), aus Frankreich Leos Carax und Romain Goupil, dessen „Lettre pour L.“ in Sarajevo die Weltpremiere erlebte.

Und die Regisseure Sarajevos sind mit einer stattlichen Reihe von Dokumentarfilmen präsent, die vor allem die Zerstörung Sarajevos zum Thema haben. So wurde als Auftakt des Festivals neben den sieben Minuten, die Bertolucci von seinem noch nicht fertiggestellten „Little Buddha“ einsandte, „Acht Jahre danach“ von Ademir Kenović und Antonije Zalića geboten. Im Winter 1984 hatte die ganze Welt auf Sarajevo geschaut. Im olympischen Dorf, das damals gebaut wurde, huschen heute verängstigte Menschen durch eine Ruinenlandschaft. Dobrinja, direkt an der Front gelegen, gilt als eine der gefährlichsten Zonen der Stadt. Kenović, Leiter der Sarajevoer Filmproduktionsgemeinschaft SAGA, die mit dem Radio KIZ und der Theatergruppe MES das Festival – ohne jede Hilfe aus dem Kulturministerium – organisiert hat, hat sich schon mit seinem Film „Bekenntnis eines Ungeheuers“ einen Namen gemacht. Es ist das erschütternde Dokument über die Psyche des Borislav Herak, eines serbischen Freischärlers, der – bereits zum Tode verurteilt – dem Regisseur im Gefängnis erzählt, wie er zu Beginn seiner militärischen Ausbildung an Ferkeln übte, wie man Muslimen die Kehle durchschneidet.

Beim ersten internationalen Filmfestival von Sarajevo wird kein Film prämiert. Es gibt keine goldene Granate zu vergeben. Man braucht keine Premieren. Für die Bewohner Sarajevos, für die das Festival schließlich veranstaltet wird, ist alles, was in den letzten 19 Monaten entstanden ist, Premiere. Man muß nur wenige Tage in dieser Stadt verbracht haben, um die Bedeutung dieser Filmtage zu verstehen.

Um fünf Uhr abends wird es dunkel. Die Kerze kostet einen Monatslohn. Batterien sind unerschwinglich. Kein Fernseher hilft über den Abend hinweg. So wartet man, in viele Decken gehüllt, in ungeheizten Zimmern bei Temperaturen um den Nullpunkt schon frühabends den nächsten Morgen ab. Und die Nächte werden noch länger werden und vor allem noch eisiger. Die kalte Jahreszeit hat erst begonnen. Die wenigen Wälder und die Bäume in den Parkanlagen wurden schon im letzten Winter verfeuert. Im Kino hingegen sorgt ein Generator für Licht und die Masse der Menschen für Wärme. Allein das genügt schon vielen.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. „Ich will Whisky, Marihuana und Parfum“, hatte Pasović zum Abschied gesagt. Tiere mögen keinen Alkohol, brauchen kein Kölnisch Wasser. Und kiffen tun sie auch nicht.