„Unterwegs im Schlamm steckengeblieben“

■ Vor 75 Jahren: Das Ende des Kaiserreiches in Hamburg / „Volksmatrosen“ mit roten Schleifen fordern: Weg mit den Hohenzollern! / Heiße, dankbare Grüße an die roten Blaujacken von Kiel     Von Kay Dohnke

Der Senat riet zur Besonnenheit: „in diesen schicksalsschweren und für des Reiches und Hamburgs Zukunft so bedeutungsvollen Tagen“. Immerhin: Nicht nur Hamburgs Männer, auch die Frauen rief man auf, klaren Kopf zu bewahren. Was war passiert?

Anfang November 1918 ereig-neten sich in ganz Norddeutschland politische Unruhen. Nachdem am 29. Oktober in Wilhelmshaven die Heizer auf den kaiserlichen Kriegsschiffen den Befehl zum Auslaufen der Flotte sabotierten und zahlreiche Beteiligte nach Verlegung ihres Geschwaders in Kiel verhaftet wurden, regten sich erste Proteste: Tausende Matrosen demonstrierten gegen die unerträglichen Verhältnisse an Bord, für die Freilassung ihrer Kameraden und für die Beendigung des schon längst verlorenen Krieges.

Fast über Nacht wandelte sich die Militärrevolte zum politischen Aufstand, als sich die linksgerichteten Unabhängigen Sozialdemokraten und die Arbeiterschaft der Werften und Rüstungsbetriebe mit den Matrosen solidarisierten. Das neue gemeinsame Ziel hieß nun: Abschaffung der Monarchie, Ausrufung der sozialistischen Republik. Am 3. November ging die Macht in Kiel nach nur geringfügiger Gewaltanwendung an einen Arbeiter- und Soldatenrat über. Und noch vor Erringen dieses ersten Erfolges sorgten Kuriere der „roten Matrosen“ dafür, daß der Aufstand nicht auf Kiel begrenzt blieb...

Schon in der Nacht zum 4. November kommt es auch in Hamburg zu ersten Unruhen, als vermehrt Gerüchte über die Kieler Ereignisse zu kursieren beginnen – aber noch ahnt niemand, was sich innerhalb kürzester Zeit daraus entwickeln wird. Am nächsten Tag treten Arbeiter auf der Vulkanwerft aus Solidarität mit den Kieler Aufständischen in einen Sympathiestreik; Gewerkschaftsvertretern gelingt es aber, die Gemüter zu beruhigen und Entscheidungen hinauszuschieben. Auch die SPD setzt auf den Faktor Zeit – lediglich der radikale Flügel der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) will vorbehaltlos dem Kieler Beispiel folgen.

Als am 5. November die Zeitungen ausführlich von der Revolte berichten, greifen die Unruhen verstärkt auf Hamburg über. Bei Blohm & Voss kommt es zu regelrechten Tumulten – aber noch immer können sich die Gewerkschaften nicht zum Handeln entschließen, wollen sich durch langwierige Beratungen absichern und Streiks vermeiden. Fast unablässig wird jetzt getagt. Ein Resolutionsentwurf umfaßt sehr weitgehende politische Forderungen: sofortiges Ende des Krieges, Rücktritt der Hohenzollern, Demokratisierung des Reiches und aller dazugehörigen Gebiete, eine Amnestie - und das volle Wahlrecht für Männer und Frauen. SPD und Gewerkschaften vertagen eine Beschlußfassung.

Abends finden sich über 6000 Menschen im Gewerkschaftshaus zu einer öffentlichen Volksversammlung ein. Nachdem ein Redner der USPD offen für den politischen Umsturz wirbt, treten auch Abgesandte der Kieler Matrosen auf. Begeistert stimmen die Zuhörer ihren revolutionären Forderungen zu. Spontan solidarisieren sich Werktätige und Soldaten.

Noch in derselben Nacht lassen die Matrosen ihren Worten auch Taten folgen: sie besetzen im Hafen liegende Torpedoboote, deren Mannschaften sich ohne sonderliche Gegenwehr der Bewegung anschließen. Der Elbtunnel wird gesperrt, Patrouillen entwaffnen in den Straßen andere Soldaten und Offiziere. Im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof entsteht die provisorische Kommandozentrale, gesichert durch Barrikaden und Posten mit Maschinengewehren – noch muß mit Angriffen durch kaisertreue Truppen gerechnet werden. Aber die Aktivisten erhalten laufend Verstärkung: weil der Militärkommandant die Bahnverbindungen nach Kiel hat unterbrechen lassen, können viele durchreisende Matrosen nicht mehr in ihre Einsatzorte gelangen und bleiben in Hamburg hängen. Am Ende dieser langen Nacht tritt ein erster Arbeiter- und Soldatenrat zusammen.

„Kühnheit und festes Vertrauen, ihr Kämpfer all! Es ist der Anfang der Weltrevolution!“

Am Morgen des 6. November stürmen die roten Matrosen die Kaserne des Infanterie-Regimentes 76 in der Bundesstraße. Ein kurzer Schußwechsel fordert zehn Tote und mehrere Verletzte, aber die Gegenwehr hörTt bald auf. In keinem größeren Betrieb Hamburgs wird noch gearbeitet: die Belegschaften ziehen in die Stadt. Auf den Kriegsschiffen im Hafen wehen rote Fahnen. Heimaturlauber auf dem Rückweg an die Fronten werden auf den Bahnhöfen am Besteigen der Züge gehindert. Mögen die Aufständischen anfangs noch Zweifel an den Erfolgschancen ihrer Revolte haben – die Nachrichten aus Kiel, aber auch Meldungen vom Beginn gleichgerichteter Proteste in Lübeck, Flensburg, Bremen, Bremerhaven und anderen Städten stimmen sie optimistisch.

Der 6. November kann für Hamburg als Höhepunkt der Revolution gelten. Überall in der Stadt sind Marineangehörige unterwegs, „Volksmatrosen“ mit roten Schleifen an den Uniformen bestimmen das Straßenbild – und findige Geschäftsleute bieten flugs diese neuen Erkennungszeichen feil. Patrouillen entwaffnen die Offiziere, reißen ihnen die Rangzeichen herunter. Später versammeln sich über 40.000 Menschen auf dem Heiligengeistfeld. Begeistert stimmen sie den Forderungen des Arbeiter- und Soldatenrates zu. Ein langer Demonstrationszug macht sich auf den Weg nach Altona zum Generalkommando. Auf der Reeperbahn wird er noch beschossen – am Ziel angekommen, haben sich die verantwortlichen Militärs aber schon aus dem Staub gemacht.

Und die Bürgerschaft? Im Rathaus macht man einstweilen weiter, als sei nichts geschehen. Um 18 Uhr versammeln sich die Volksvertreter zu ihrer 27. Sitzung, beraten über die Errichtung eines Arbeitsamtes, die Wahrnehmung der Geschäfte des Friedhofsdirektors, den Ankauf von Grundstücken in Fuhlsbüttel. Größter finanzieller Posten auf der Tagesordnung: die Bewilligung von weiteren 30 Millionen Mark für Kriegszwecke. Zur selben Zeit, während auch dieser Beschluß mehrheitlich abgesegnet wird, prangt auf der Titelseite der Abendausgabe des Hamburger Fremdenblattes ein Aufruf des Senates an die „Männer und Frauen Hamburgs“, in dem es heißt: „Wir alle wünschen den Frieden. Hamburgs Regierung wird das ihrige tun, dies Ziel zu erreichen.“

Also alles wie gehabt? Nicht ganz: Die Macht der Herren im Rathaus steht nämlich unmittelbar vor ihrem Ende. Bürgermeister von Melle, der die Sitzung zwischenzeitlich verlassen hat, erscheint wieder im Saal und gibt eine Erklärung zur aktuellen politischen Lage ab. Deren Inhalt ist simpel: Senat und Bürgerschaft seien bereit, sich hinter die neue Regierung zu stellen, die das Vertrauen der Volksvertreter genieße. Aber nur wenn Ruhe und Ordnung eingehalten würden, könne Hamburg „auch aus diesen schweren Zeiten wieder glücklich hervorgehen.“ So schnell kann es also gehen mit dem Umschwung...

Das Hamburger Echo - einige Tage als Rote Fahne das Organ des Arbeiter- und Soldatenrates - bejubelt abends die Errungenschaften:

„Es lebe die Revolution! Die roten Fahnen wehen. Die Massen sind in Fluß. Die Kokarden und Adler werden herabgerissen. Zertreten die Zeichen jahrhundertealter Schmach und Unterdrückung. Soldaten und Arbeiter verbrüdern sich. Die Fesseln sind gesprengt. Unsere heißen, dankbaren Grüße den roten Blaujacken von Kiel, die das Signal in die deutsche Dämmerung hineinschmetterten.

Arbeiter und Soldaten Hamburgs! Im ersten Kampfe seid ihr siegreich geblieben. Glaubt nicht, daß ihr jetzt ruhen könnt! Die Gefahren von außen sind noch nicht beseitigt. Aber der Soldatenrat bürgt uns dafür, es bürgt uns die straffe, opferfreudige Disziplin der roten Garde, daß Hamburg militärisch nicht zu bewältigen ist.

Natürlich: Hinter dem Rücken der Revolutionäre waren die Sozialdemokraten am Spalten.

Kühnheit und festes Vertrauen, ihr Kämpfer all! Es ist der Anfang der deutschen Revolution, der Weltrevolution! Glückauf zur gewaltigsten Tat der Weltgeschichte. Es lebe der Sozialismus! Es lebe die deutsche Arbeiterrepublik!“

Bei allem Überschwang der Gefühle: auch Weltrevolution und Arbeiterrepublik sind nicht ohne mühsame Kleinarbeit zu haben. Und so beginnt für die Aufständischen nun das alltägliche politische Geschäft: Lebensmittel- und Rohstoffversorgung der Stadt müssen organisiert, Kontakte zur Verwaltung hergestellt, die Presse kontrolliert und die vielen spontan gebildeten Räte und Ausschüsse koordiniert werden. Der Pazifist und linksradikale Aktivist Dr. Heinrich Laufenberg wird Präsident der Ratsexekutive. Eine Zeitlang agieren das Revolutionsorgan mit seinen Gremien und der Senat nebeneinander her; erst am 12. November – in Berlin ist längst die deutsche Republik ausgerufen – endet auch an der Elbe das alte Regime.

Doch die neue politische Leitung Hamburgs soll es nicht leicht haben – bereits am 7. November hatten sich SPD und Senat insgeheim über die Abschaffung des Arbeiter- und Soldatenrates verständigt. Stetig agieren Sozialdemokraten und Gewerkschaften hinter dem Rücken der Revolutionäre für ihre Ziele, spalten mit ihrer Agitation die Solidarität zwischen Bevölkerung und roten Soldaten. Kapitalistisch orientierte Gruppen aus Gewerbe und Industrie setzen den Arbeiter- und Soldatenrat offen unter Druck, erzwingen Zugeständnisse in wirtschaftlichen Fragen.

Anfang Dezember fliegen die Pläne einer konservativen Gegenrevolution auf. Doch auch in den eigenen Reihen ändert sich die politische Richtung: Am 18. Dezember spricht sich ein Kongreß aller Arbeiter- und Soldatenräte gegen das Rätesystem und für eine Nationalversammlung aus. Laufenberg verliert an Rückhalt, seine anfangs radikalen Positionen werden schwammiger. Die kommenden Monate sind erfüllt von parteipolitischen Querelen, von Intrigen und teils vehementen Auseinandersetzungen. Als die SPD in der Bürgerschaftswahl vom 19. Januar 1919 einen Mehrheitssieg erzielt, wird die politische Weichenstellung an der Elbe klar – Ende März ist der Arbeiter- und Soldatenrat entmachtet und löst sich auf.

Die Revolution ist gescheitert – und es bewahrheitet sich die pessimistische Einschätzung des Ratsmitgliedes Dörr:„Wir haben vor einem Strom von Widerständen gestanden bei Ausbruch der Revolution. Wir sind in das Wasser hineingestiegen, um das andere Ufer zu erreichen, sind aber unterwegs im Schlamm steckengeblieben.“