Das Notwendige und das Machbare

■ Die Angst vor dem wählenden Autofahrer: „Kassel-Syndrom“ lähmt SPD   Von Florian Marten

Für den potentiellen grünen Verkehrssenator Martin Schmidt war die Vorbereitung der Koalitionsverhandlungen mit der SPD ein leichtes Spiel. Er griff sich die Beschlüsse des Hamburger SPD-Verkehrsparteitags vom Februar 1993, nahm ein bißchen weg, tat ein bißchen hinzu - fertig war die GAL-Vorlage. Als er sein rot durchwirktes Kunstwerk am Wochenende der roten Verhandlungscrew präsentierte, löste er blankes Entsetzen aus: Unmöglich, der sichere Untergang eines rotgrünes Senats!

Der Altonaer SPD-Linke Walter Zuckerer zur taz: „Es hat sich gerade bei der Verkehrspolitik, wo wir in vielen Grundfragen einer Meinung sind, gezeigt, daß die Vorstellungen über das Notwendige und das Machbare weit auseinandergehen.“ Also: Auch die SPD-Linke hält das „Notwendige“ ( Parteitagsbeschlüsse) nicht für „machbar“.

Dieser politische Offenbarungseid ist auch auf dem Papier brav dokumentiert: Schon das Wahlprogramm der SPD hat die Beschlußlage der Partei bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. In einer Vorlage Voscheraus zur Verkehrspolitik war dann selbst vom Wahlprogramm nichts mehr zu sehen: Auto pur, Verkehrswende erst, wenn wieder ganz viel Geld da ist, lautet sein Programm. Grund der verkehrspolitischen Wende der SPD sind allein die Ängste vor Handelskammer und ADAC.

Das verkehrspolitische Trauma heißt „Kassel“. Dort hatte die seit Ewigkeiten, zuletzt meist rot-grün, regierende SPD nach jahrzehntelangen Wahlerfolgen bei den hessischen Kommunalwahlen im Frühjahr eine katastrophale Niederlage einstecken müssen. Schuld, so eine blitzschnelle Analyse, war die Verkehrspolitik, mit der man zuvor die Wahlen immer gewonnen hatte. Das „Kassel-Syndrom“, so Verkehrsforscher Heiner Monheim, war geboren. Weiß-rote „Lollis“, Warnbaken in den neu eingerichteten Tempo-30-Zonen, hatten im Wahlkampf tatsächlich eine wichtige Rolle gespielt. Die These freilich, aus Stadtbürgern, die Maßnahmen für Fuß, Fahrrad und ÖPNV (Umweltverbund) fordern sowie Einschränkungen fürs Auto akzeptieren, seien über Nacht zu allem entschlossene Autofreaks geworden, ist durch nichts belegt.

Im Gegenteil: Eine detaillierte Nachwahl-Analyse des Münchner Instituts Socialdata belegt, daß die Forderung nach der Bevorzugung des Umweltverbundes zulasten des Autos in Kassel zwischen 1988 und 1993 nochmals deutlich von 74 auf 86 Prozent Zustimmung gestiegen ist. Auch eine Analyse der SPD-Wählerschaft inklusive aller Abtrünnigen liefert ein unzweideutiges Bild: Über 90 Prozent der SPD-Stammwähler, 94 Prozent der grünen Ex-SPD-Wähler, 89 Prozent der CDU-Ex-SPD-Wähler sowie 84 Prozent der diesmal wahlverweigernden Ex-SPD-Wähler votieren für den ÖPNV-Vorrang. Auch nach der Wahl fordern 88 Prozent der WählerInnen eine autoarme Innenstadt und Tempo-30-Zonen.

Gescheitert ist die SPD, so analysieren es die Planer Helmut Holzapfel und Heiner Monheim, an Stil und Defiziten ihrer Verkehrspolitik: Selbstherrliches, arrogantes Regierungsgehabe (“Konfrontation statt Kooperation“) und verkehrspolitische Versäumnisse (Kassel hat Tempo 30 erst jetzt entdeckt, ist ausgesprochen fahrradfeindlich etc.) hätten die guten Ansätze (Stadtbahn, Umweltkarte, Geprächsservice usw.) überlagert. Statt im Dialog und mit modernen Planungsmethoden zu überzeugen und die Schwachpunkte des Kasseler Verkehrs anzupacken, verärgerte das SPD-Regime seine Untertanen mit „sturem Verwaltungsvollzug“ und „Mängelverwaltung“.