Generation XY (ungelöst)

Der Jugendreport der neuesten Ausgabe des „Kursbuch“ – dünn im Sachlichen, dafür ausgesprochen dick im Auftrag  ■ Von Thomas Groß

Das kommt einem doch bekannt vor: „Am frühen Morgen des 7.Oktober, gegen vier Uhr, ist der achtzehnjährige Stefan Gennrath, Bäckerlehrling im dritten Lehrjahr, wie üblich aus der elterlichen Wohnung in Harmsheim ins benachbarte Steinheim zur Arbeit gefahren. Am Arbeitsplatz gibt es keine besonderen Vorkommnisse...“

Was wie der fernsehgerechte Einstieg in einen Fallreport klingt, ist im jüngsten Kursbuch nachzulesen. „Deutsche Jugend“ heißt es, und so schwergewichtig wie der Titel sind die darunter versammelten Annäherungen – gilt es doch, Phänomene zu diskutieren, die die Öffentlichkeit „anhaltend ratlos“ gemacht haben, wie es in dem Beitrag von Jörg Bergmann und Claus Leggewie heißt. „Erklärungsbedarf“ ist ihnen nur eine Vokabel für einen akuten Notstand. Denn am Ende des Lehrlingstages, man ahnt es schon, wird im harmlosen Harmsheim ein Brandsatz in ein Asylbewerberheim geflogen sein.

Geht man vom Interesse der Kursbuch-Autoren aus, so besteht die deutsche Jugend nahezu ausschließlich aus heimtückisch verkappten Gewalttätern, deren Machenschaften nach allen Regeln der Kunst erfaßt, dramatisiert, kommentiert gehören. Eine neue Lust am Bearbeiten ist geweckt. „Der Ernst der Neunziger“, heißt Bodo Morshäusers Beitrag zur Lage, und das spiegelt einen Grundtenor: Das Jahrzehnt der Unverbindlichkeit, in dem Intellektuelle sich mit Erfolg nur an der flüchtigen Gestalt des „Zeitgeistes“ zu schaffen machen durften, ist vorbei. Es geht wieder um was, ja, in einer Situation, in der „Geschichte wieder mit Blut geschrieben“ wird (Morshäuser), gibt es keinen Grund mehr, nicht auch in Texten aufs Ganze zu gehen. Und so erklären sie drauflos, die sich auf diesem Feld bereits als Spezialisten für den wiedergekehrten Ernst bewiesen haben – von Morshäuser über Klaus Hartung und Wolfgang Engler bis hin zum guten alten Peter Schneider (ausnahmsweise mal nicht dabei: Klaus Farin und Seidel-Pielen).

Den Anfang macht allerdings eine „authentische“ Stimme. „Versucht nicht, uns zu verstehen“, heißt es warnend im ersten Satz von Peter Königs „Wir Voodookinder“. Gleich ist klar: Es handelt sich um einen Rapport aus dem Inneren der Bestie. König, ein 22jähriger Fast-noch-Jugendlicher, malt das Bild einer Generation, die sich parasitär in dem von der Elterngeneration geschaffenen relativen Wohlstand eingerichtet hat, es aber „irgendwie nicht auf die Reihe“ kriegt. Lebensentwürfe werden kopiert, aber gleichzeitig subtil verfremdet, nichts ist, wie es auf den ersten Blick wirkt.

In den Achtzigern hätte man dieses Verwischen von Spuren noch als Strategie der Subversion gefeiert. König beschreibt, wie gegenkulturelle Konzepte der Achtziger (Simulation, Mikropolitik, Bricolage) in einen traurigen Hedonismus eingemündet sind. Leider gefällt er sich dabei ein wenig darin, einer jüngsten lost generation das Wort zu reden und jugendliches Handeln zum existentiellen Akt zu verklären. Kleine Monster der Konsumgesellschaft sind es, die im pathetischen Plural vorgeführt werden, Leute, die zwar aufgeklärt sind, aber doch nicht so recht wissen, was sie tun – auch und gerade nicht, wenn ihr Treiben schlimme Folgen hat. Wenn es noch etwas gibt, das sie gemeinsam haben, so ist es die von der Vorgängergeneration übernommene Weigerung, sich auf Kategorien wie „Identität“ oder „Logik“ festlegen zu lassen. Und weil also in ihrem Leben alles uneigentlich geschieht, prallt auch jede Erklärung an ihnen ab. Durch hartnäckige Verweigerung klarer Zuordnung lassen sie die Mechanismen soziologischer Befragung ins Leere laufen.

Grund genug für Jörg Bergmann und Claus Leggewie, einen dieser quälend unspektakulär verlaufenden Tathergänge kasuistisch zu rekonstruieren und erst dann „in die schier unerklärlichen deutschen Vorgänge einzuordnen“. Was interessiert, ist die „flache“ Handlungsmotivation der Täter: Wenn ein bei den Eltern wohnender kleinstädtischer Mittelstands-Skin seine rechte Gesinnung auf ein paar Aufkleber zurückführt, die ihm „ein Typ“ bei einem Heimspiel der Eintracht Frankfurt in der Halbzeitpause vor dem Klo „in die Hand gedrückt“ hat, dann kann von einer ideologischen Anstiftung durch straff organisierte Nazikader kaum die Rede sein.

Bergmann/Leggewies Approach hat den Vorteil, nicht sofort in jene Aufgeregtheiten zu verfallen, die das neue Reden über Jugendkultur unter dem Druck des Rechtsrucks mit sich gebracht hat. In einer Variante erzählender Soziologie gelingt es ihnen, eine Welt kognitiver Dissonanzen von innen heraus zu rekonstruieren: Die Täter handeln zwar vordergründig „zufällig“, versetzen sich aber durchaus systematisch in einen Zustand, in dem eine minimale Überhitzung der Affekte genügt, um das „seelische Dynamit“ (Max Scheler) des so gepflegten Ressentiments zur Explosion zu bringen. Unmittelbar soziale Motive sind dabei sekundär, verstehen die Jugendlichen ihre Tat doch allen Ernstes als moralischen Akt. In der Suche nach action soll die Gesellschaft des Spektakels zugleich bestätigt und überschritten werden.

Die Frage nach dem kollektiven Akteur, der „sozialen Bewegung“, die hier naheliegt, beantworten Bergmann/Leggewie mit ihren Mitteln ähnlich wie König in seinem Manifest: Die rechte Szene hat sich, ganz nach dem Vorbild der neuen sozialen Bewegungen der Siebziger und Achtziger, dezentralisiert und enthierarchisiert; wie der seinerzeit vielbeschworene „Neue Sozialisationstyp“ nutzen sie Massenmedien zur Erzwingung öffentlicher Aufmerksamkeit und schreiben sich Insignien rebellischer counter culture zu – mit dem Unterschied allerdings, daß sie auf die Unterstützung der Bevölkerung rechnen können, in der sie sich, traurig genug, „wie Fische im Wasser“ bewegen.

Wie immer man zu Leggewies politischem Background stehen will: Eine ähnlich materialreiche und geduldige Analyse von Tathergängen und deren Konsequenzen findet sich, wenigstens im Kursbuch, kein zweites Mal – nicht in Horst Domdeys Ideologiekritik der Jungen Freiheit, in Sturzbecher/Dietrichs bieder-illustrierendem Zusammenschnitt von Jugenddialogen auf dem S-Bahnhof

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und auch nicht in Wolfgang Brücks Rückblick auf das Skinhead-Wesen in der früheren DDR. Ohnehin wird der Sachbezug mit der Seitenzahl lockerer. Martin Schröder schildert exemplarisch seine Zeit bei der Nationalen Volksarmee, „denn Militär ist uniform“. Bei Bodo Morshäusers Beitrag handelt es sich um die erweiterte Fassung eines taz-Artikels vom Februar 1993, in dem er mit den Helden der poststrukturalistisch inspirierten Pop-Programmatiken der Achtziger abzurechnen versucht.

Im letzten Drittel schlägt dann vollends die Stunde des Meta-Diskurses: dünn im Sachlichen, aber dick im Auftrag. Wolfgang Engler, Ost-Kultursoziologe, beklagt die Absenz bindender Gewissensinstanzen in Ost und West: Ein geteilter Himmel war da drüber. Das Über-Ich sei „strukturell halbiert“, eine „Politik des Eindämmens das Mögliche und Geratene“. Engler ist der Quoten-Ostler im weiten Feld des Nachdenkens über Deutschland und seine Jugend. Bußfertig kommt er uns mit gesamtdeutscher Einsicht in das „dezivilisatorische Übel“, die die Schuld paritätisch auf beide Vaterländer verteilt und dabei im Adorno-Tonfall („Eskamotierung“) brilliert, als gelte es vor allem, sehr viel nachzuholen.

Sachen, die man im Westen mittlerweile im kleinen Finger hat. Klaus Hartung übt sich in dem ihm eigenen leichtfüßigen Beton- Deutsch, das sich zu gleichen Teilen aus Leitartiklerton und Platzbehauptungs-Slang zusammensetzt. In seinem in der Zeit vorabgedruckten Versuch über den „Untergang der Jugend“ bildet er aus dem Stegreif kapitale Null- Sätze wie „Jener utopische Jugendbegriff entsprang dem säkularen Generationskonflikt, der 1968 seinen historischen Höhepunkt fand“ oder „Eine Totalität der Ursachen verweist auf die gesellschaftliche Totalität“. Ansonsten liefert er eine altexlinke Mainstream-Variante jener mittlerweile wirklich angekommenen These vom „Abschied von der Jugendkultur, wie wir sie kennen“, nicht ohne dabei verstohlen mit Botho Strauß und anderen neo-rechten Programmatikern zu liebäugeln: „Der konservative Wertekanon ist nicht zufällig näher an der Aktualität.“

Bleibt Peter Schneider. In seinem reichlich eitel an Adorno angelehnten Pamphlet „Erziehung nach Mölln“ (in der FAZ vorabgedruckt) schert er offensiv aus den Reihen der Jugendinterpretatoren aus, indem er einen Erklärungsbedarf kurzerhand für nicht existent erklärt. Daß Jungmänner aggressiv sind, sei nämlich schon immer und überall so gewesen – bei den Papua wie hier und heute. Die „Idiotie der zivilen Gesellschaft“ zeige sich vielmehr gerade in einer palavernden Aufklärung, die noch doof Fragen stellt, wo endlich einmal gescheit gehandelt gehört.

Aaah, das schafft Luft, das schafft Raum für planenden Durchblick! Weil er mit dieser beherzten Note das Objekt seines Redens aber auch von jeglicher historischen Konkretion befreit hat, holt der Erklärungsnotstand Schneider auf krummen Wegen natürlich wieder ein. Wenn alles auf eines hinausläuft, im Grunde schon immer so war, wie es ist, wie soll man dann die spezifische Form heutiger Gewaltbereitschaft begreifen? Da weiß Schneider sich dann nur noch zu helfen, indem er als gesamtschuldnerischen Hafter „die Medien“ ins Spiel bringt: Gewaltszenen in Film, Fernsehen und Video gehorchten einer „Suchtlogik“, sie wirkten nun einmal verrohend auf junge Gemüter, basta.

Schneiders Einlassung in Sachen Jugend läuft auf eine Variation der alten Bilderschuld-These hinaus: Hätte man die bösen Ikonen erst einmal aus dem Blickfeld verbannt, wäre schon das meiste gewonnen. Nicht nur ein Schrei nach Zensur tönt hier aus dem Hintergrund, auch die Leitlinien einer neuen „Pädagogik“ werden mit beunruhigender Lust am Drakonischen hingeworfen. Wo Adorno sich für ein Minimum an sozialer Norm einsetzte, das die Stelle wahrer Humanisierung vertritt, fordert Schneider ein soziales Lernen „nach den Gesetzen von Lohn und Strafe“, wo in „Erziehung nach Auschwitz“ behutsam von einem „Klima“ die Rede ist, „das dem Äußersten ungünstig ist“, gipfelt die Erziehung nach Mölln in der Beschwörung „martialischer Gegengewalt“.

Klar: Nazis ist mit pädagogischen Umarmungen nicht beizukommen, aber hier ist Schneider doch etwas die Phantasie aus dem Ruder gelaufen. Gelinde gesagt eigenartig, wie der Weltinterpretationswille eines 68er-Sohns auf ganzer Linie durchgreift, um am Ende bei einer Sehnsucht nach Übersicht und klaren Verhältnissen zu landen, die seltsam vertraut aus Vor-68er-Zeiten herüberweht. Vatis Argumente kehren wieder: „Ärmel aufkrempeln, zupacken...“

Und so sehen wir am Ende nicht nur betroffen den Vorhang zu und viele Fragen offen, wir müssen uns auch einen Kopf draus machen, weshalb diese altgewordenen Protest-Jungs sich so wahnsinnig in eigener Sache aufregen: Haben die gemerkt, daß sie keiner mehr ernst nimmt?

„Kursbuch 113“, hrsg. von Karl Markus Michel und Tilman Spengler, 188 Seiten, 15 DM.