■ Neues zum Aids-Blutskandal
: Wer ist schuld?

Der Aids-Skandal ist symptomatisch für den Zustand dieser Republik. Ob bei der Umweltpolitik oder bei Vergehen gegen das Außenwirtschaftsgesetz: Die Welt ist zu kompliziert geworden für die Politik und ihre Kontroll-Organe. Speziell die Gesundheitspolitik ist zu gefährlich und unüberschaubar geworden, um sie einer „Partei-A-13-Politiker-Kaste“ zu überantworten – auf Länder- wie auf Bundesebene. Wer keine eigene sachkundige Bewertung der Probleme vornehmen kann, tappt im Dunkeln.

Minister Seehofer sei Dank, daß er eher im Affekt und einem Instinkt folgend, denn aus Sachkenntnis mit UB-Plasma den richtigen Esel im Sack getroffen hat. Dafür gebührt ihm Respekt. Auch die Hartnäckigkeit, mit der er jetzt auf Aufklärung pocht, verdient Unterstützung, gegen den empörten Aufschrei selbsternannter seriöser Experten-Edelfedern, die um ein Haar die Aufdeckung dieses Mega-Skandals wieder verharmlost hätten! Wenn jetzt von den Medien dieser kriminelle Skandal dazu benutzt wird, alte Rechnungen mit Seehofers Vor-Vorgängern Süssmuth und Geißler zu begleichen, wird wieder mal das Pferd vom falschen Ende aufgezäumt. Inkompetenz, Behördenschlendrian, wachsende kriminelle Energie, individuelle Verantwortlungslosigkeit – noch heute –, das sind die bitteren Wahrheiten, die der UB-Plasma-Skandal exemplarisch zu Tage fördert. Wir müssen mit jeder Schweinerei rechnen, überall und täglich – ist die Botschaft. Sie kratzt am Image der heutigen modernen – ach so sicheren Medizin, so deutlich wie selten zuvor. Der von den Medien so gehätschelte Medizinbetrieb, der bislang wie eine Monstranz durch die Lande gezogen wurde, steht auf dem Prüfstein, nicht die Politiker der ersten Aids-Stunde.

Schluß damit, endgültig! Auch im Medizinbereich gibt es Bestechung, Vertuschung, Verniedlichung, aktive Aufklärungs-Verhinderungs„ethik“ und deren Protagonisten in Form der immergleichen Experten, die in trauter Nähe zur Industrie seit Jahren Kritik niederwalzen. Ich bleibe dabei, wer, wenn nicht Insider-Ärzte – also Laborärzte, Transfusionsmediziner und Anästhesisten oder Chirurgen, hätte seit Beginn der achtziger Jahre wissen sollen, daß die Risiken der Blut- und Blutprodukteverabreichung trotz aller Beteuerungen nicht ausgeschlossen waren? Zumindest die Indikationen hätten sie enger stellen müssen, wenigstens das. Und die Patienten hätten sie aufkären müssen, wenigstens das. Politiker waren zu diesem Zeitpunkt mit einer Eigenbewertung des Problems gänzlich überfordert. Sie waren auf Expertenmeinung angewiesen – und in welcher Nähe viele dieser akademischen Experten und die sie befragenden Medienvertreter zur Pharmaindustrie standen und stehen, wird der Öffentlichkeit leider erst jetzt deutlich. Jetzt, im Jahre 1993, nach unzähligen Irrungen und Wirrungen der offiziellen Aids-Forschung, zum Tiefschlag gegen Politiker der ersten offiziellen Aids-Jahre 1982-1985 auszuholen – weil es politisch gerade paßt – ist für viele Opfer postmortale Klugscheißerei. Fachfremde Politiker wie Rita Süssmuth oder Heiner Geißler und im übrigen alle Nachfolger, von Lehr über Hasselfeld bis Seehofer, sind mit der differenzierten Beurteilung dieses hochkomplexen Themas „in personam“ überfordert. Nicht einmal Ärzte, sondern nur noch Insider mit langjähriger Erfahrung blicken einigermaßen durch. PPSB, Faktor VIII, Gamma Globuline, Plasma und Serumderivate – wer von den Politikern 1983 darüber detaillierte Kenntnisse hatte, der möge im Plenum der Landtage und des Bundestages bitte aufstehen! Wer von Minister Töpfer, heute zuständig für den komplizierten Reaktorbau und die Entsorgung, früher auf Landesebene zuständig für die Gesundheitspolitik in UB-Plasma-Land Rheinland- Pfalz, in beiden Fragen detaillierte Fachkenntnisse auch in Einzelfragen erwartet, ist blauäugig.

Viel wichtiger wäre es, wenn jedem administrativen erfahrenen Politiker parteiunabhängige und berufserfahrene Persönlichkeiten mit Vetorecht zur Seite gestellt würden, die bei der Entscheidungsfindung beraten. Mehr Fachkompetenz in den untergeordneten Behörden versteht sich von selbst.

Hätte eine frühe generelle Meldepflicht, wie sie von den Aids-Hardlinern immer gefordert wurde, kriminelle Aktivitäten und blauäugige Behördenkontrolle ausschließen können? Wohl kaum. Panschen und Umetikettieren, schlampige oder gar keine Kontrolle der HIV-Testung bei ungetestetem Importblut aus dem Osten Europas durch kriminelle Bluthändler hätten auch sie nicht verhindern können. Wir hätten uns sicherer gefühlt und die hohe kriminelle Energie der Branche wäre uns verborgen geblieben. Wo Medizin der reinen Marktwirtschaft ausgeliefert ist, wird sie gefährlich. Das sollten wir uns merken. Der eigentliche Skandal ist, daß bis heute nicht über die windigen Indikationen geredet wird, bei denen unkalkulierbare Risiken eingegangen werden: Heute und nicht nur in den frühen 80er Jahren. Das wäre die Botschaft der Stunde. Und dafür können Süssmuth und Geißler überhaupt nichts. Heidi Schüller

Fachärztin für Anästhesie, freie Journalistin