■ Es droht ein Rückfall in altes Lagerdenken
: Auf der Suche nach dem verlorenen Streit

„Ihr politisches Todesurteil in der Fraktion“ – so qualifizierten ihre Parteikollegen das Ereignis. Rita Süssmuth hatte eisiges Schweigen, Gelächter und Rücktrittsforderungen geerntet. „Eine Art Psychoterror“, lautete ein einsamer Kommentar. Die Bundestagspräsidentin hatte vom Präsidentenkandidaten Heitmann verlangt, „sich in aller Schärfe und Eindeutigkeit von rechtsradikalen Gruppen zu distanzieren“ und erneut dessen Frauenbild, Geschichts- und Normalitätsverständnis sowie europafeindliche Haltung abgelehnt. Die Fraktionsdebatte muß einer Art Gehirnwäsche gleichgekommen sein. Bisherige Kritiker von Verfahren und Kandidat widerriefen reihenweise – und lieferten einzelne Widerborstige den Reißzähnen der wartenden Meute aus. Mittlerweile ging es um etwas viel Grundsätzlicheres als Süssmuths Kritik an Heitmann, die für die ganze CDU hätte selbstverständlich sein müssen. Genug mit den ewigen Abweichlern und Abweichlerinnen, lautet die Botschaft.

Gab es einst eine Zeit, da Quergeister gefragt schienen, so wird ihr gegenwärtig schleichend der Garaus gemacht. In den siebziger Jahren beherrschten die closed shops mit ihrem Schwarz-Weiß/Freund- Feind-Abschreckungsdenken und den politischen Exekutionspraxen gegenüber Andersdenkenden in Form von Mundtot-Machen, Parteiausschlüssen, Terroristenhysterie und Berufsverboten die Politik. Das tötete politische Kreativität ab. Außerparlamentarische neue soziale Bewegungen mußten dies mit riesigem Kraftaufwand korrigieren. Mühsam lernte das Land im Laufe der achtziger Jahre die Abweichung als notwendiges Lebensmittel kennen. Die Bereitschaft, sie als Teil des politischen Systems zur Kenntnis zu nehmen, wurde zu Recht als große Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft gefeiert. Beflügelt wurde die Kultur des Streits dann Ende der achtziger Jahre durch den Umbruch in Osteuropa. Sie erlebte eine neue, aber kurze Blüte mit dem Ende der DDR. Doch dann war es wieder vorbei. Auseinandersetzung schlug um in nachträgliche Abrechnungen und Begleichungen. Peu à peu rutschte eine befreiende Diskussionskultur weg, in dem Maße, wie die politische Gegenrevolte voranschritt und die restliche Politik in Lähmung versetzte. Mittlerweile gibt es nicht nur wieder eine konservative politische und kulturelle Offensive. Ihren Trägern gelang nach der Einheit, was Helmut Kohl 1983 an proklamierter Wende nicht erreichen konnte. Die Rechte hat eine politische Dominanz erobert und droht, die demokratische und liberale Öffentlichkeit in die Defensive zu drängen: In den Medien will man ohne Skrupel Vertreter der „Auschwitz-Lüge“ als Attraktion auftreten lassen; Verlage publizieren wie Pilze aus dem Boden sprießende rechte Intellektuelle. Die Themen Nation, Familie, Ordnung, starker Staat, militärische Weltrolle sind up to date. Die FAZ begeht diese Ereignisse als Kulturkampf. Sie ist sich des Ertrags ihrer Früchte allerdings nicht so sicher wie manche, für die das Vierte Reich schon angelaufen ist.

Angst, Verunsicherung und Hilflosigkeit sind groß. Fatal aber ist, daß die einzige Reaktion zunehmend darin liegt, sich zu verkriechen und abzuwehren, nichts wissen zu wollen und allenfalls blind prinzipiellen Widerstand zu üben. Nicht nur die Linke neigt dazu, Versuche des Ausbruchs aus der Erstarrung zugunsten des nostalgischen Rückbezugs auf alte heimelige und heile Zeiten niederzuwalzen. Reflexartig gibt es Wertungen und Abwertungen, die die Mühe des Prüfens und der Neueroberung einer tatsächlich neuen Wirklichkeit überflüssig machen. Zu allem politischen Leid an der Rechtsentwicklung kommt die Angst um den eigenen (bisherigen) Argumentationsbestand als letzten Haltegriff. So lechzt das Land in unsicheren und komplizierten Zeiten wieder nach Freund und Feind, rechts und links, oben und unten. Ordnung muß sein. Mauern sind der Schutz, der zur Inzucht verdammt und sonst nichts mehr sehen und erleben läßt. Ist die Wiederkehr autoritärer Lagerpolitik mit folgebereiter Heerschar unausweichlich?

Sicherlich ist das Beispiel Rita Süssmuths nur symptomatisch. Friedbert Pflüger wird kurzerhand das Bundestagsmandat entzogen. Bei Heiner Geißler scheint man auch nur noch auf den Zeitpunkt zu warten, ihn aus jeder Aufmerksamkeit hinausbefördern zu können. Oskar Lafontaine wurde soeben beinahe vollständig unter einer Lawine des Hasses seiner Genossen und Genossinnen begraben. Nicht, weil man seine durchaus diskussionswürdige These nicht teilte, sondern vor allem, weil er sich nicht in Reih und Glied einordnet. In der FDP behalten Gerhard Baum und Burkhard Hirsch ihre eigene Meinung längst lieber für sich. Die auf Vielfalt einst so stolzen Grünen verbünden sich gegen jene, die die neue Ruhe mit der Infragestellung der politischen Konzepte aus der Zeit des Kalten Krieges stören. Diese „Liebe“ zum politisch mündigen Individuum kennzeichnet nicht nur die Parteien. Kritische oder auch ketzerische Impulse zum Pazifismus, Universalismus, zu Anti-Gewaltkampagnen, „antiautoritärer Erziehung“, zur Familie, der deutschen Einheit, zur Arbeitszeit, Lohnverteilung und zum Sozialstaat, zur Rolle der RAF wurden an kaum einer Stelle an- und produktiv aufgenommen.

Die AbweichlerInnen erfahren keine argumentative Auseinandersetzung. Auf Kritik wird wieder mit Kritikverbot reagiert, das prinzipiell stets verlängerbar ist. Neue exorzistische Teufelsaustreibung liegt in der Luft. Statt Konflikte auszutragen, bunkert man sich ein. Das Risiko der Selbstbefragung und Verunsicherung, die Bereitschaft, vielleicht gar der Zwang zu lernen, werden so umgangen. Das Fatale ist, daß Demokratie und eine freie Gesellschaft aus Angst vor „dem Feind“ freiwillig aufgegeben werden. So erleben wir die innere Aufrüstung des neuen Deutschlands auf der Ebene der politischen Kultur – die Entdemokratisierung, Entpolitisierung und Ideolgisierung der öffentlichen Debatte.

Für den Schutz der politischen Entwicklungsfähigkeit des neuen Deutschlands ist aber gerade jetzt das Gegenteil vonnöten: die rapide veränderte, ungleiche, unvereinbare, widersprüchliche Wirklichkeit anzuschauen, zu analysieren, Kritik zu üben und zu erneuern. Kritik ist ein Mittel der Befreiung. Neugierde und Interesse an Entdeckung tun not. Die Neubelebung der Debatte selbst ist das Mittel gegen die Demontage einer zivilen politischen Kultur und zur Verteidigung der Zivilgesellschaft.

Es kann nicht um die fraglose Übernahme von Einwürfen oder neuen Thesen gehen, es muß aber um die Aufnahme und Beantwortung aller Einwände und Argumente gehen. Die Auseinandersetzung, das Wägen, die Suche nach der Wahrheit in einer Kritik ist Chance, die Veränderungen zu erfassen. In jeder neuen Situation sind politische Ziele und Begriffe neu zu bestimmen. So käme es darauf an, die Lust an der Debatte wiederzugewinnen und das Gespür zu entwickeln, daß es auf jedes Wort ankommt. Sprechen und streiten ist nicht sinnlos, sondern kostbar. Dafür müssen wir uns Zeit nehmen. Mechtild Jansen

Freie Autorin in Köln