Ein Zen-Faust mit Schalk

■ Schauspielhaus: Premiere von Christoph Marthalers Faust-Adaption

Daß, wenn sich zwei Fischpräparatoren die Strümpfe ausziehen und sie anschließend verschlingen auch in Hamburg empörte Zuschauer die Saaltüren knallen, verwundert niemand. Insbesondere, wenn es um das Theaterheiligste, um Goethes Faust geht. Christoph Marthalers Wurzel aus Faust 1+2 ist allerdings eher eine Trennungsgeschichte vom Mythos und somit in ihrer radikalen Neudefinition ein ganz eigenes Kunstwerk, bei dessen Betrachtung bildungsbürgerliche Erwartungen einem eher den Spaß vermiesen.

Marthaler entwickelt einen Zen-Faust in dem schönsten Anstalts-Kerker, den man je gesehen hat (Bühne: Anna Viebrock). Müde und erschöpft von zuviel faustischer Vergangenheit ertragen die Gestalten sich mehr, als daß sie sich aufeinander beziehen wollen. Wiederholungszwänge, Gewaltausbrüche, absurde Kapriolen und romantische Lieder strukturieren die berühmtesten Zitate aus Goethes Machtwerk, die sich nur widerwillig zu der bekannten Geschichte ordnen wollen.

Wie ein unverständliches Uhrwerk ticken die diversen Figuren ohne individuellen Charakter und Darsteller (unter anderem Ulrich Tukur) in ihren eigenen Weltzeiten nebeneinander vor sich hin. Faust (Josef Bierbichler) und Mephisto (Siggi Schwientek) sind Tippelbrüder mit großen Erinnerungen, der Glanz der Goetheschen Phantasie zerreibt sich an manischen und verzweifelten Gestalten, die schicksalsergeben versteinerte Riten zelebrieren. Letzte Fluchtinstinkte aus einem unausweichlichen Ordnungsgefüge werden mit fataler Präzision niedergemacht.

Immer wieder bricht Marthaler die scheinbare Zumutung für das Publikum, das weder eine Erzählung noch feierliche Poesie erhält, mit einer ironischen Textauswahl. Und läßt man sich auf den langsamen Rhythmus der Komposition ein, so entdeckt man fein gesponnene Fäden und minutiös ineinander gefügte Kleinsterlebnisse. Beckett und Achternbusch haben hier intelligent Pate gestanden. Die pompös-absurde Bildsprache, die wunderbaren Gesänge und die geniale Erfindung wundersamer Gestalten, die in ihrer Traurigkeit Magisches an heimlicher Geschichte leisten, also Marthalers so ureigene Theatersprache, ist vielleicht das Schönste, was Frank Baumbauer aus Basel mit nach Hamburg gebracht hat.

Till Briegleb