Zähe leichte Muse

■ Das „Hamburgischste“ Theater feiert sein 150jähriges Bestehen / Eine kleine Geschichte des Thalia Theaters aufgeschrieben von Julia Kossmann

Die beiden frischvermählten Bräutigams hatten sich von der strengen Hochzeitszeremonie auf der Bühne gerade bei Max und Consorten und ein paar Bierchen erholt, da zeigte ein Blick auf die Uhr, daß es in wenigen Minuten mit der Jungfrau von Orleans in die Schlacht gehen sollte. Also nichts wie los, dann ab durch das Labyrinth der Gänge im Bauch des Thalia Theaters, noch zwei Minuten bis zum Show-Kampf — aber wo ist die Rüstung? Liegt unschuldig in der Garderobe, fällt es dem verzweifelten Statisten hinter der Bühne ein, der plötzlich wie um sein Leben rennt, um pünktlich in den Kampf zu ziehen. Die Aufführung surrt, und auch die beiden fehlbaren Statisten stehen die Schlacht durch bis zur letzten Verbeugung.

Tagtäglich vollziehen sich Dutzende ungesehener kleiner Wunder, Dramen und Manöver vor und hinter den Kulissen, werden die Teufel in den Details ausgetrickst, öffnen sich im Zusammenspiel von Mensch und Technik, Musik und Wort, Kunst und Sport die Theaterwelten im Thalia — und das seit 150 Jahren.

Zum Heiteren verpflichtet

Am 9. November 1843 eröffnet der aus Südfrankreich stammende Charles Schwartzenberger, genannt Chéri Maurice, sein Unterhaltungs-Theater am Pferdemarkt, der nun schon lange nicht mehr Pferdemarkt heißt, weil man immer mit dem Neuen Pferdemarkt durcheinander kam. Theatererfahrung hatte Maurice als Betreiber des Tivoli, eines Gartenlokals mit Bühne, in St. Georg schon gesammelt. Hier am Alstertor, wo seit 1266 mit Vieh gehandelt wurde, bietet sein neues Theater im Jahr 1843 1100 Sitzplätze und 600 Stehplätze. Das „zweite Theater“ sollte es genannt werden, um keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß das damals bereits 100 Jahre alte Stadttheater in der Dammtorstraße das erste Haus am Platze sei, aber Chérie Maurice paukt den Namen der leichten Muse Thalia durch. Während also zwischen Hamburg und Altona rund um den Hamburger Berg und die Reeperbahn die Varietées und Schaubuden brummen, nimmt innerhalb der Stadtgrenzen das neue Lustspielhaus den Betrieb auf. Es geht nicht so derb zu wie auf dem Spielbudenplatz, wo 1841 der Vorläufer des heutigen St. Pauli-Theaters erstmals den Vorhang gelüpft hatte, wo Klassiker in volksnaher Aufbereitung gegeben werden, das Publikum lauthals gegen ungerechte Schicksalsschläge auf der Bühne protestiert und der Direktor als Kartenabreißer, Reklameläufer und Hamlet fungiert. Trotzdem wird der neue Vergnügungsbetrieb zunächst mißgünstig beäugt, bald aber setzt er sich mit gehobener Unterhaltung auch bei honorigen Pfeffersäcken durch. Der geschickte Theaterleiter, der bei seinem Tod 1896 mit den Worten „deine Kinder weinen um dich“ verabschiedet wird, führt das Thalia auf den traditionsreichen Weg gepflegten Amusements, der viele noch heute das Thalia für die „Hamburgischste“ aller Bühnen an Alster und Elbe halten läßt.

In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts muß Chérie Maurice, der das Haus über 50 Jahre lang leitete, allerdings noch um Reputationen kämpfen und hatte Gelegenheit, die nähere Bekanntschaft der Kunst- und Sittenwächter im Hamburger Senat zu machen, die das Stadttheater vor der neuen Konkurrenz zu schützen suchten. Dem Lustspielhaus wurde die Aufführung von Opern und Trauerspielen behördlich untersagt, und mehr als zwei Akte durften die gezeigten Stücke auch nicht haben. Man befaßt sich mit den wenig segensreichen Haarspaltereien, ob ein Drama nun ein verwerfliches Lust- oder aber ein bildendes Schauspiel sei.

Happy-End im Puppenheim

Der zähe Theaterdirektor Maurice macht sein Haus schließlich zur führenden Bühne Norddeutschlands, er beschäftigt Autoren, fördert den Nachwuchs und hat ein Näschen für die Vorlieben des Publikums, dem Ibsens Puppenheim bei der Hamburger Premiere mit einer Art Happy-End serviert wurde. Und Carl August Görner, der von 1869 bis 1884 als Schauspieler und Regisseur am Thalia wirkte, entdeckte gar das „Weihnachtsmärchen“, jene heilen zauberhaften und der Wirklichkeit trotzenden Kinderwelten, in die das Bürgertum seine Kleinen gerne vor den Feiertagen entführt sehen wollte. Seither hat sich das „Weihnachtsmärchen“, in den 60er und 70er Jahren freilich und pauschal als reaktionär geschmäht, zu einer Art Initiationsritus für kleine Theatergänger entwickelt. Ein geschickter Zug also, sich den Nachwuchs im Parkett selbst heranzubilden. Die - damals noch - ungewöhnliche Maßnahme bewies sich als vorausschauend und sinnvoll. Heute wird das junge Publikum besonders dadurch gewonnen, daß es von der theaterpädagogischen Abteilung des Thalia zum Mitmachen eingeladen wird und es das Medium in konkreten Projekten kennenlernen kann.

Theaterwettstreit

Als 1899 das Deutsche Schauspielhaus in der Kirchenallee den Betrieb aufnimmt, um dem saturierten Hamburger Theaterleben wieder neue Impulse zu geben und neben Oper (Stadttheater) und Komödie (Thalia) den Bildungsauftrag des Theaters zu beleben, muß sich auch das Thalia wieder ins Zeug legen, um Publikumsgunst und Neugier zu wecken. Ganz neue Wege in der Regie geht Leopold Jeßner, von 1904 bis 1915 Regisseur am Thalia. Furore macht er nicht nur mit der Art seiner Inszenierungen, die nach wahrhaftigem Ausdruck suchen, und die Ergebnisse der jungen Wissenschaft der Psychologie einfließen lassen. Neben die volkstümlichen Komödien setzt er Stücke von Gorki, Hauptmann, Schnitzler und Wedekind auf den Spielplan. Ein frischer Wind wehte über die Bühnen des Hauses, das nun jedoch wegen Baufälligkeit geräumt werden muß. Im Jahr 1912 wird gegenüber des alten Thalia das neue Haus mit 1300 Plätzen an der Stelle eröffnet, wo auch heute noch gespielt und an diesem Wochenende das große Geburtstagsfest gefeiert wird.

Die Träume vom stets brummenden Theater werden 1914 mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs barsch beendet. Ab 1915 hält Hermann Röbbeling das Heft in der Hand und leitet bis 1932 das Haus, das seinen ausschließlichen Lustspielhaus-Charakter verloren hat. Den Klassikern geht es schon mal an den bildungsbürgerlichen Kragen, so auch 1926, als Ernst Deutsch den Hamlet im Frack gibt und eine kniefreie Ophelia im Wahn einen zeitgenössischen Schlager schmettert.

Leichte Muse als Maske

1928 übernimmt Röbbeling auch die Leitung des Schauspielhauses. 1932, als er nach Wien ans Burgtheater geht, wird Erich Ziegel Intendant. Ziegel und seine Frau Miriam Horwitz hatten sich 1918 bereits mit avantgardistischem Theater in den Hamburger Kammerspielen einen Namen gemacht, und von 1926 bis 1928 hatte Ziegel das Schauspielhaus geleitet. Nun wird das Thalia umbenannt in „Kammerspiele im Thalia“. Mit der Macht-ergreifung der Nationalsozialisten wird Hamburgs Theaterlandschaft umgekrempelt. Die Stadt übernimmt das Stadttheater als Opernhaus und das Schauspielhaus. Autoren wie Ernst Toller oder Fritz von Unruh werden vom Spielplan der Bühnen gestrichen, und Erich Ziegel muß mit seiner Frau Miriam Horwitz emigrieren.

Da das Thalia traditionell auf die leichte Muse abonniert war, entgeht es dem Zwang, Sprachrohr der Nazi-Propaganda zu sein, aber auch hier werden Blut-und-Boden-verbundene Nazi-Autoren auf die Bretter gehievt und jüdische Ensemblemitglieder zur Flucht gezwungen. 1937 erfolgt die Verstaatlichung des Theaters. Als die Staatsoper 1943 bei Luftangriffen zerstört wird, und nun fünf mal die Woche im Thalia Opern gegeben werden, eröffnen die Thalianer im Herbst 1943 die „Thalia-Kammerspiele“ im ehemaligen Jüdischen Gemeinschaftshaus an der Hartungstraße. „Es lag an historischer Stätte, im Zentrum des alten Judenviertels am Grindel. Verlassen, abweisend lag es da, und ich sehe noch die uralten Paare, die sich gleich daneben mit ihrem gelben Stern in den Schatten der Mauern drückten“, erinnert sich der Kulturjournalist Werner Burckhardt. 1944 werden schließlich alle Hamburger Theater geschlossen, und im April 1945 wird der Zuschauerraum des Hauses am Pferdemarkt, der heute Gerhart-Hauptmann-Platz heißt, zerstört.

Neuanfang in Provisorien

1945 wählt sich das Thalia-Ensemble den Schauspieler, Komödianten und gerühmten Witz-Erzähler Willy Maertens zum Intendanten. In einer Schulaula in der Schlankreye wird ab 1945 — als erstes Stück wird Molnars Spiel im Schloß aufgeführt — wieder gespielt. Behelfsmäßig wird das Theaterhaus am Gerhart-Hauptmann-Platz 1946 mit einer Bühne ausgestattet, knapp 700 Plätz gibt es noch fürs Publikum. 1960 wird das mit Hilfe des Hamburger Großindustriellen Kurt A. Körber renovierte Haus wieder eröffnet. Maertens bleibt der Muse Thalia mit populären Boulevard-Stücken treu, aber er macht die Hamburger auch bekannt mit den amerikanischen Realisten Arthur Miller, Thornton Wilder und Tennessee Williams. Und Maertens, der seine Rolle durchaus auch als Vater der „Thalia-Familie“ begreift, holt mit Inge Meysel, Ingrid Andree, Hanns Lothar und Harry Meyen künftige Stars an seine Bühne — wenngleich letzterer seine berühmteste Rolle als Ehemann von Romy Schneider spielte.

Auf echte Filmstars setzt Maertens Nachfolger Kurt Raeck, der Geschäftstüchtige. Der Direktor des Berliner Renaissance-Theaters pendelt von 1964 bis 1969 zwischen Spree und Elbe. Er engagiert O.E. Hasse, Paula Wessely, Heidemarie Hatheyer und Heinz Rühmann. Und Elisabeth Flickenschild entführt er dem Schauspielhaus.

Boy Gobert verkörpert den „besseren Herrn“ nicht nur auf der Bühne. 1925 in Hamburg geboren, machte Gobert Karriere am Wiener Burgtheater. Ohne Erfahrungen in der Leitung eines Theaters zu haben, hatte er, dessen Vater einmal in Hamburg Kultursenator gewesen war, ein glückliches Händchen in Verhandlungen mit den Behörden und konnte für das Thalia Subventionen loseisen, die es nun nicht mehr gegenüber dem großen Bruder Schauspielhaus zurücksetzten. Das Thalia bekommt sogar noch eine Experimentierbühne in der Kunsthalle, das TiK. Gobert, der sich große Popularität als geschniegelter Trottel vom Dienst in den straßenleerenden Krimis des jungen Mediums Fernsehen verdient hatte, hielt sich als Schauspieler, Regisseur und Direktor ans Traditionelle. Rundum in der Republik jagte ein Theaterskandal den nächsten, da Regisseure wie Peymann und Zadek dem Bürgertum den bloßen Kunstgenuß vergraulten und mit der Formel „Regie-Theater“ die Buhrufe im Parkett hervorkitzelten.Heute seufzt Thalia-Intendant Jürgen Flimm über die Petitesse, mit Zadek und Peymann gleichzeitig über Gastspiele zu verhandeln, was etwa so schwierig sei „wie Nahostverhandlungen“.

Gobert wurde in Hamburg geliebt und von den überregionalen Medien gerne verrissen. Gleichzeitig aber brillierte er als Schauspieler und brachte mit Peter Hacks und Harold Pinter auch zeitgenössische Kost auf den Tisch. Und er engagierte den Schauspieler Peter Striebeck und den Regisseur Jürgen Flimm und machte so auch gleich seine beiden Nachfolger im Direktorenamt mit der Bühne bekannt. Eher antiautoritär gestaltet sich die Leitung des Intendanten Peter Striebeck von 1980 bis 1985. Die Thalia-Gemeinschaft entwickelt in aller Lässigkeit Züge einer „schrecklich netten Familie“, der das Publikum davonläuft.

Ein Ruck geht durchs ganze Haus, als 1985 Jürgen Flimm seinen Erfolg, den er im Kölner Theater verdient hatte, nach Hamburg mitbrachte. Schon 1973 hatte er als Oberspielleiter des Thalia zusammen mit dem Bühnenbildner Erich Wonder einen nachhaltigen Eindruck mit der Inszenierung von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald hinterlassen.

Als Intendant päppelt Jürgen Flimm den Betrieb wieder hoch. Er bringt ostdeutsche Regisseure ins Haus, es gelingen ihm unvergessene Inszenierungen wie Tschechovs Platonov und er knüpft die erfolgreichen Bande mit Robert Wilson, dem Theaterstar aus Texas, der im Thalia zunächst Heiner Müllers Hamletmaschine und Parsifal inszeniert. Die experimentellen Ansätze führen auf eine erfolgreiche Schiene modernen Entertainments, das sich nicht um die traditionelle Frage nach U- und E-Genre schert. Mit Tom Waits, dem Reibeisen, und William Burroughs, dem Underground-Poeten schuf Wilson den Black Rider , der weltweit beachteten Theaterschau nach dem unscheinbaren Freischütz. Und das folgende Wilson-Stück Alice war mit 34 Aufführungen das meistgespielte der Spielzeit 1992/93.

Im Thalia-Treffpunkt arbeiten seit 1987 Theaterpädagogen mit Jugendlichen, später spielen auch Senioren mit und in diesem Jahr ging erstmals auch ein Theaterprojekt von behinderten und nicht behinderten Jugendlichen über die Bühne. Da Flimm die Reibung mit dem Publikum braucht, öffnet er das Thalia für politische Themen, die seit 1990 in den Sonderveranstaltungen FreitagNacht und Thalia Thema beleuchtet werden. Mit der Großveranstaltung Gegen das Vergessen setzen Flimm und der Weltstar Vanessa Redgrave 1992 ein — mitunter auch als gutgemeint gewertetes — Zeichen gegen deutsche Xenophobie.

Gleichzeitig mit Jürgen Flimms Antritt als Obermeister der Kunstmaschine Thalia hatte Peter Zadek 1985 die Leitung des Schauspielhauses übernommen. Die spannende Konkurrenz zwischen den Bühnen war eine Lebensquelle des Hamburger Theaterlebens. Und just in der nun startenden Saison haben Flimm und das Thalia mit dem Schauspielhaus-Intendanten Frank Baumbauer wieder einen kecken Herausforderer gefunden, auch ein Geschenk, oder?