Normalität ist eine fixe Idee

Ein Gespräch mit Virginie Thévenet, der Regisseurin von „La Femme Normale“  ■ Von Christiane Peitz

taz: „La Femme Normale“ erzählt die Geschichte einer ausgeflippten Frau, die die Normalität als Abenteuer entdeckt. Sie haben bereits als Malerin, Illustratorin, Schauspielerin und Chansonsängerin gearbeitet. Ist Evas Geschichte autobiographisch?

Virginie Thévenet: Nicht direkt. Die Idee ist mehr aus Beobachtung entstanden als aus Introspektion. Manche Geschichten, die Eva erlebt, sind Freunden oder auch mir zwar ähnlich zugestoßen, aber Evas Geschichte ist nicht meine Geschichte. In manchen Punkten bin ich ihrem Freund Peter, dem schwulen Maler, ähnlicher.

Evas Mutter ist ja ebenfalls eine Künstlerin, die sich ihre Freiheit wahrscheinlich erkämpfen mußte, die aber für Eva selbstverständlich ist. Steckt hinter Evas Problem, sich vor lauter Freiheit zu langweilen, auch der Generationskonflikt der 68er-Kinder?

Ganz bestimmt. Erstens ist Freiheit immer nur die Freiheit, die man selber wählt. Exzentrisch sein ist prima, wenn es deine eigene Entscheidung ist, aber nicht, wenn man seine ausgeflippte Mutter nachahmt. Zweitens hat die Mutter der Tochter offenbar nicht beigebracht, wie die Gesellschaft funktioniert, nie hat Eva jemand gesagt, was sie tun und woran sie sich halten soll. Deshalb erscheint es ihr exotisch, bestimmte Regeln zu beachten. Sie will anders sein. Ähnlich wie der amerikanische Peter ist auch sie eine Fremde, deshalb müssen Peter und Eva ihr Leben selbst erfinden.

Mit vierzehn drehte ich einen Film mit Bernadette Lafont, der Darstellerin der Mutter: „Les Stances à Sophie“ von Moshe Mizrahi. Lafont spielte einen Hippie und ich die kleine Schwester ihres sehr bourgeoisen Ehemanns. Dessen Familie versucht, diese Frau zu unterdrücken, und ich als Mädchen bewunderte ihre Unabhängigkeit. Sie fand es sehr lustig, eine ähnliche Rolle aus anderer Perspektive noch einmal zu spielen. Außerdem ist mir aufgefallen, daß heute junge Leute viel ernster sind als wir damals. Ihr Traum ist ein guter Job, ein Auto, lauter materielle Dinge. Mich macht das traurig. Ich wollte damals mindestens den Himalaya besteigen. Ich glaube, dieser veränderten Lebensperspektive liegt eine fundamentale gesellschaftliche Veränderung zugrunde. Es gibt heute mehr Arbeitslosigkeit, existentielle Verunsicherung, Aids. Peter, Eva und Chichi unterhalten sich im Film darüber, ob sie Sex mit Kondomen mögen. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in Frankreich ist die Safer-Sex-Reklame unmöglich. Sie behaupten, es sei toll mit Kondomen. Ich kenne keinen, der Kondome mag, und es gibt immer noch Leute wie Chichi, die sich weigern, sich zu schützen. Warum behaupten sie nicht, es ist blöd, aber es geht nicht anders? Eva merkt jedenfalls, daß sie auf sich aufpassen muß.

Evas Expedition in die sogenannte normale Welt führt ja zu einer überraschenden Entdeckung. Niemand ist wirklich normal. Die älteren Herren, bei denen sie putzt, sind ein schwules Pärchen mit ziemlich verrückten Gepflogenheiten. Der eine hält sich für den lieben Gott. Auch ihre beiden schwarzen Arbeitskolleginnen auf dem Einwohnermeldeamt sind alles andere als brave Spießbürger.

Normalität ist eine fixe Idee. Es gibt einen Code, und dem versucht Eva zu folgen. Aber innerhalb dieses Rahmens findet man viele ausgeflippte Leute. Ich war zum Beispiel im Rathaus, wegen der Szenen im Einwohnermeldeamt. Alle Angestellten waren Schwarze! Die gesamte französische Bürokratie ist schwarz. Das ist völlig normal. Auch schwule Pärchen wie Claude Chabrol und Jean-François Balmer im Film kenne ich. Man trifft sie in Cafés, ich habe oft zugehört, wie sie mit den Kellnern reden und die verrücktesten Dinge erzählen. Und Leute, die täglich ihre Plastikblumen gießen, gibt es erst recht!

Aure Atika, die Darstellerin der Eva, ist eine unbekannte Schauspielerin, im Film umgeben von Stars wie Chabrol, Lafont, Balmer oder der Almodovar-Schauspielerin Rossy de Palma. Ein neues Gesicht zwischen alten Bekannten: War das Absicht?

Ja, ich mag das. Die richtige Hauptdarstellerin zu finden war sehr schwer, denn es gibt kaum gute französische Schauspielerinnen, die marginal oder ein bißchen verrückt aussehen. Wir haben vor allem klassische, gutaussehende Schauspielerinnen. Wenn so eine im Film gesagt hätte: „Ich möchte normal sein“, hätte das Publikum sich nur gewundert: „Aber du bist doch normal.“

Wie die meisten französischen Autorenfilmer haben Sie eine Zeitlang bei den „Cahiers du Cinéma“ mitgearbeitet. Taten Sie das in der Absicht, Regisseurin zu werden?

Nein, ich fand lediglich, es gibt zuviel Text und zuwenig Bilder in den „Cahiers“. Ich wollte deshalb gern Schauspieler und Regisseure interviewen und sie dabei fotografieren. Ich wollte zeigen, wie sie aussehen, wenn sie reden. Ich mußte also beides machen, dabei hatte ich keine Ahnung, wie man eine Kamera benutzt oder Interviews führt. Ich habe nur geknipst, aber es wurde veröffentlicht. Es ist eine sehr lebendige Art, jemand zu portraitieren. Rohmer zum Beispiel. Er ist ein Intellektueller, aber wer kennt schon seine Teezeremonie oder seine Art, sich beim Sprechen zu verhaspeln? Ich fand es interessanter, auch das zu zeigen, nicht nur seine klugen Ideen. Ähnliches habe ich mit Serge Gainsbourg oder Raoul Ruiz gemacht.

Eva sagt einmal zu Peter: „Nach Picasso Maler zu sein würde mich umbringen.“ Sie haben in Filmen von Truffaut, Rohmer und Chabrol mitgespielt, jetzt führen Sie zum drittenmal selbst Regie. Wie ist es, nach all diesen Autorenkino-Klassikern eine französische Filmemacherin zu sein?

(lacht) Ich denke, sie sind nicht Picasso. Picasso war einzigartig. Der Satz bezieht sich mehr auf meine Erfahrung als Malerin. Mit zwanzig hatte ich eine Ausstellung, sie war erfolgreich, die Bilder verkauften sich, aber als ich all die Bilder an der Wand sah, dachte ich: Es sieht hübsch aus, aber für einen Matisse reicht es nicht. Natürlich ist es als Filmemacherin nicht leicht, wenn man das französische Autorenkino und dazu noch Scorsese oder Cassavetes kennt. Trotzdem hatte ich nie das Gefühl, in jemandes Fußstapfen zu treten. Meinen ersten Film „La nuit porte jarretelles“ (zu deutsch etwa: „Die Nacht trägt Strapse“) drehte ich parallel zu meiner Rolle in Rohmers „Vollmondnächte“, also sagten alle, die arbeitet im Rohmer- Stil. Aber es war nur die zeitliche Koinzidenz. Ich schätze die Autorenfilmer sehr, war mit Truffaut und bin mit Rohmer befreundet, aber ich wollte sie nie nachmachen. Ich glaube nicht, daß ich einen Truffaut-Komplex habe. Das Schöne am Kino sind die Unterschiede.