Acht Stunden sind doch ein Tag

■ „La Femme Normale“ – ein filmisches Frauenportrait von Virginie Thévenet

Schwarz-rot sind die Farben des Sperrbezirks. Vorspanntitel rollen, Schnitt auf Stripperin in kreischend-bunter, billigster Umgebung. Kirmesatmosphäre, Jahrmarkt. Dann hört man eine Männerstimme, die schreiend „die besten Stücke“ anpreist. Als ein solches führt die Regisseurin Virginie Thévenet in „La Femme Normale“ die Frau ein, deren Weg wir begleiten werden: Eva (Aure Atika), Stripperin in Barcelona, ganz unparadiesisch, fatal und auf der Suche nach Gott. Sie ist alles schon einmal gewesen: Punk, Go- Go-Girl, Studentin, Rumtreiberin. Jetzt soll alles anders werden. Diesmal heißt das Zauberwort aber nicht „Differenz“, sondern Gleichheit, sie will sein wie alle anderen. Normalität heißt das Glück, ein geregelter Tag, banale Sorgen, Gegenwärtigkeit, Sicherheit. Alle reden davon. Und angeblich gibt es sie überall, die Normalos und ihre Welt, Achtstundentag, Ehe, Kinder, Eigenheim.

Aber so einfach scheint das Einfachste von der Welt doch nicht erreichbar. Thévenets Anti-Heldin hat weder Geld noch besondere Fähigkeiten. Ihr Kapital ist der Madonna-Look, ihre Ressource die Zeit und ihr Motor ein ganzer Schock unbefriedigter Bedürfnisse. Fliehend aus der vermeintlich illustren Künstler- und Drogenszene, der sie angehört und die sie zu Tode langweilt oder anekelt, tritt sie entsprechend desorientiert den Rückzug an. Sie geht bei einem schwulen Paar putzen, macht ihren Führerschein, kauft sich ein Kostüm und bewirbt sich um eine Stelle in der Stadtverwaltung. Rollin', rollin', rollin'. Aber selbst an den abgelegensten Orten der Welt holt sie ihre Vergangenheit ein – und sei es auch nur in der Form ehemaliger Freunde, die sie aufsuchen.

Sie bewegt sich fort wie im Treibsand, geschäftig, aber ziellos; letztlich kommt sie nicht weiter. Das unbewußte Umherschweifen, die laszive, aber zugleich ziellose und leerlaufende Selbstinszenierung Evas, ihre endlose Langsamkeit, mit der sie alles und noch dazu uninteressante Dinge angeht, sowie ihre fast dreiste Sprachlosigkeit und entrückte Unberührtheit von allem erzeugt eine irritierend aggressive Faszination.

Obwohl das, was der „femme normale“ Thévenets zustößt, durchgehend unspektakulär und alltäglich ist, sind die Szenenfolgen und die Entwicklung der Figuren so unberechenbar, daß man stets gespannt darauf bleibt, was als nächstes passieren wird und wann das große Suchen oder das Warten endlich belohnt wird. Der oberflächlichen Einfachheit der Bilder von Strand und Meer, den Menschen und der Stadt traut man nicht allzu lange. Sie erregen Verdacht.

Vergleichbar den Filmen Eric Rohmers, in denen Virginie Thévenet selbst mitgespielt hat, läßt sie uns die fast reale Zeit, uns an die Menschen und den Rhythmus der Filmbilder zu gewöhnen, bis man endlich bereit ist, den Fluß der Normalzeit ebenso zu akzeptieren wie die schrullige Hauptfigur und ihre Gespielen. Wenn man gerade geschluckt hat, daß es keinen Sinn macht, zwischen belanglosem Detail und bedeutsamer Schicksalswendung zu unterscheiden, nimmt das Ganze erneut eine unvorhergesehene Wendung – dieses Mal allerdings wirklich ins Phantastische und Märchenhafte: Aus Eva, dem Aschenputtel, wird am Ende eine Königin, auch wenn sie das ebensowenig verdient zu haben scheint wie ihr lethargisches Scheitern zuvor.

Was glücklich macht, ist nicht die extravagante Daseinsform – von der Eva einfach nicht wegkommt –, sondern wiederum etwas so Einfaches wie Erstaunliches: Selbstverdopplung durch Schwangerschaft.

Thévenet versöhnt hier nicht einfach bürgerliche (Frauen-)Phantasien mit Aufklärertum. Ihr Anliegen, so scheint es, liegt vielmehr darin, das biblische Vorbild Evas rundum zu erneuern. Die verschiedenen Lebensmodelle werden bei Thévenet mit angenehmem Gleichmut nebeneinander präsentiert, als machbare Experimente mit Erfolgsgarantie. Das Fegefeuer ist damit genauso abgeschafft wie das Himmelreich: „Good girls go to heaven, bad girls go everywhere.“ Christiane Voss

„La Femme Normale“ (Sam Suffit), Buch und Regie: Virginie Thévenet, Kamera: José Luis Alcaine; Mit Aure Atika, Jean-Francois Balmer, Philip Bartlett, Claude Chabrol, Rosy De Palma u.a., Frankreich, 1991.