Alexandrinische Zwillinge

Kaum vereinigt, teilt sich die Berliner Staatsbibliothek auch schon wieder  ■ Von Christoph Wingender

Im geteilten Berlin gab es fast alles in doppelter Ausführung: Zoos und Verkehrsbetriebe, Oberbürgermeister und Akademien. Die meisten dieser Nachkriegszwillinge sind inzwischen abgewickelt oder wiedervereinigt – zusammengewachsen, wie man seit Willy Brandts Aperçu zu formulieren beliebt. Daß sich hinter dem orthopädischen Optimismus dieser Metapher Schwierigkeiten verbergen, die über die schleppende Durchführung eines komplizierten Verwaltungsaktes hinausgehen, zeigen die ehemaligen Berliner Staatsbibliotheken, die seit dem 1. Januar 1992 unter dem gemeinsamen Namen „Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz“ ihre Wiedervereinigung praktizieren.

1933 gehörte die „Preußische Staatsbibliothek“ mit über 3 Millionen Büchern neben der Bibliothque National, der British Library und der Library of Congress zu den größten Einrichtungen ihrer Art. Was dann kam, ist bekannt: die Auslagerung der Bestände während des Krieges, Teilzerstörung des Bibliotheksgebäudes Unter den Linden, Verluste von Katalogen und Büchern, Überführung von Teilen der Bibliothek in die Sowjetunion und nach Polen. Nach 1945 konnten die in die sowjetische Besatzungszone und nach Schlesien ausgelagerten Bestände als Grundstock der „Deutschen Staatsbibliothek“ der DDR nach Berlin zurückgebracht werden. Die im Westen gebunkerten Bücher wurden dagegen zunächst in Marburg konzentriert und erst 1978, mit Fertigstellung des Scharoun-Baus an der Potsdamer Straße, in der „Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz“ zusammengeführt.

Die Vereinigung dieser beiden Nachkriegsbibliotheken bedeutet eine Umgestaltung der Organisationsstrukturen, bei der – glaubt man den Äußerungen von Mitarbeitern – die üblichen Ost-West- Rivalitäten und Empfindlichkeiten halbwegs unter Kontrolle gehalten werden konnten. Dabei ist der wohl brisanteste Schritt noch gar nicht vollzogen: im Osten soll, dem westlichen Personalschlüssel folgend, die Mitarbeiterzahl von 560 auf 400 reduziert werden.

Weit komplizierter gestaltete sich die Überführung der geteilten Altbestände und des nach 1945 entstandenen Sammlungsaufbaus in eine einheitliche Bibliotheksstruktur. Sonderabteilungen, wie die für Handschriften und Inkunabeln, Musik und Karten, Jugendbuch, Osteuropa, Orient und Ostasien, mußten unter neuer Leitung zusammengefaßt und weiterentwickelt werden. Handelte es sich dabei gewissermaßen um die Rekonstruktion der alten „Preußischen Staatsbibliothek“, so hat die Nachkriegsentwicklung zu unterschiedlichen Bibliotheksprofilen geführt, die erstaunlicherweise gar nicht so schwierig zu harmonisieren sind. Denn die Deutsche Staatsbibliothek verstand sich als Nationalbibliothek der DDR und war zuständig für internationle wissenschaftliche Literatur mit den Schwerpunkten Naturwissenschaften, Technik und Medizin. Welche Bedeutung der Bibliothek in der DDR beigemessen wurde, kann daran abgelesen werden, daß ihr Bestandswachstum dem der Stabi- West in nichts nachstand – und das trotz eines minimalen Ankaufsetats. Dieser Erfolg der DDR-Bibliothekare erklärt sich aus einer virtuosen Tauschaktivität, die sie mit weltweit über 1.200 Partnern organisierten und für die ihnen die gesamte Verlagsproduktion der DDR zur Verfügung stand. Demgegenüber war die Stabi West als eine wissenschaftliche Universalbibliothek mit Akzent auf den historisch-philologischen Disziplinen konzipiert. Als es daran ging, die vorhandenen Bestände abzugleichen, zeigte sich, daß die Bibliotheksprofile sich wechselseitig ergänzen. Die bange Erwartung, nun zwar über acht Millionen Bücher, darunter aber auch über Millionen von Doubletten zu verfügen, wurde positiv enttäuscht: nur etwa 25 Prozent der Monographien und 15 Prozent der Zeitschriften überschnitten sich und können nun wiederum in den internationalen Tauschverkehr gebracht werden.

Der Wert einer Bibliothek bemißt sich nicht allein an ihrem Umfang, sondern vor allem an der Transparenz ihrer Erschließungssysteme. Wer die beiden Staatsbibliotheken benutzt hat, weiß, daß man dort auf Verhältnisse trifft, die der von den Segnungen der Informationsgesellschaft verwöhnte Zeitgenosse als wenig komfortabel empfindet. So existieren im Altbau neben dem Preußischen Realkatalog ein Neuer Sachkatalog und allein drei alphabetische Kataloge: eine faszinierend altertümliche, 1908 abgebrochene Zettelkartei, ein nach den Preußischen Instruktionen von 1899 geführter und bis zum Erscheinungsjahr 1974 reichender Katalog sowie ein daran anschließender, in dem die Bestände nach dem modernen internationalen Regelwerk RAK (Regeln für die alphabetische Katalogisierung) erfaßt sind. Die Umstellung auf dieses System erfolgte im Westen erst 1985 im Rahmen des EDV-gestützten Berliner Monographienverbunds, während die Altbestände weiterhin in einem konventionellen Zettelkatalog nach den Preußischen Instruktionen erschlossen sind. Das ehrgeizige Ziel, sämtliche Zettelkataloge in elektronische Daten zu konvertieren und in den Monographienverbund einzuspeisen, wird selbst bei Vergabe dieses Auftrags an eine externe Firma erst in Jahren erreichbar sein.

Neben diesen bibliothekstechnisch komplexen Vorhaben besteht das gravierendste Problem jedoch in der Frage, nach welchen Kriterien die Bestände auf die beiden Häuser zu verteilen sind. Wider Erwarten entschloß man sich nicht zu einer systematischen Sachgebietsgliederung, sondern zu einem historischen Schnitt. Die geplante Aufteilung in vor beziehungsweise nach 1955 erworbene Publikationen ist nur aus der Geschichte der beiden Häuser verstehbar: denn während die westlichen Bestände in Marburg kaum vermehrt wurden, konnte die Deutsche Staatsbibliothek der DDR ihren geregelten Betrieb mit einem erheblichen Neuerwerb schon bald aufnehmen. Diese Zugänge wurden in Fortsetzung des Preußischen Realkatalogs bis ins Jahr 1955 systematisch in die nach Ostberlin zurückgekehrten Altbestände integriert. Die Planung sieht daher vor, sämtliche Bücher bis zu diesem Stichdatum im Haus Unter den Linden in einer Präsenz- und Forschungsbibliothek zu versammeln, während alle späteren Erwerbungen an der Potsdamer Straße in einer modernen öffentlichen Leih- und Gebrauchsbibliothek verfügbar sein werden.

Problematisch ist diese Entscheidung aus mehreren Gründen. So wird das Entleihen in die Lesesäle nur im Einbahnstraßenverkehr vom Neubau in den Altbau möglich sein; das macht insofern Sinn, als dem Leser zu einem historischen Thema auch aktuelle Literatur zugänglich sein wird. Aber diese Einschränkung führt unweigerlich auch dazu, daß Benutzer, die über mehrere Themen parallel arbeiten, einen Arbeitsplatz in beiden Häusern einrichten werden, um jederzeit über die Bestände beider Häuser verfügen zu können. Angesichts der heute schon herrschenden extremen Platznot während der Semester und vor allem während der Wintermonate, dürfte die zu befürchtende Doppelbelegung das Funktionieren der Bibliothek ernsthaft gefährden.

In Berlin dreht sich derzeit alles ums Bauen. Und das gilt auf Jahre hinaus auch für die Staatsbibliothek. Denn der Altbau Unter den Linden droht ohne Sofortmaßnahmen in sich zusammenzubrechen, während im Neubau, bei einem Erwerb von jährlich 120.000 Bänden, sämtliche Magazinkapazitäten zur Jahrhundertwende erschöpft sind. Erweiterungsflächen für den Scharoun-Bau, die der Stiftung Preußischer Kulturbesitz vom Berliner Senat zugesichert worden waren, stehen inzwischen nicht mehr zur Verfügung. Denn bekanntlich wurde auch das Areal östlich der Staatsbibliothek nach dem Mauerfall vom Berliner Senat zum Potsdamer Platz ernannt und an Mercedes-Benz et al. verkauft. Renzo Pianos Entwurf für das Gelände quetscht zwischen Bibliothek und Landwehrkanal einen unzulänglichen Erweiterungsbau, für den eine praktischerweise im eigenen Büro erstellte Machbarkeitsstudie den angemeldeten Bedarf von 20.000 auf bescheidene 4.000 Quadratmeter heruntergerechnet hat. Exakt auf den der Staatsbibliothek in Aussicht gestellten Grundstücken plaziert Piano ein überdimensioniertes Musicaltheater, dessen Monatsmiete von einer Million selbst ein Rolf Deyhle nicht zu bezahlen bereit ist. Weiterhin sieht der Piano-Plan, der den Berlinern derzeit pikanterweise im Foyer der Staatsbibliothek zur Begutachtung vorliegt, dort den Ausgang des Tiergartentunnels und eine mondän ausladende Wasserfläche vor. Stadtplanerisch, oder sagen wir ruhig verschämt: ästhetisch, macht ein solcher Designertümpel in Konkurrenz zum gemächlich dahinziehenden, sehr proletarisch- berlinischen Landwehrkanal kaum Sinn. Es drängt sich also der Verdacht auf, daß die so freigehaltene Fläche der ideale Ort sein könnte, den Tunnel über ein noch in keinem Plan eingezeichnetes Autobahnkleeblatt mit den beiden Uferstraßen oder gar der auferstandenen Westtangente zu verknüpfen, jenem seit den sechziger Jahren umgehenden Planungszombie der Auto- und Betonfraktion. Das alles versteht man in Berlin unter Planungssicherheit für eine der renommiertesten Bibliotheken Europas. Immerhin, gegen diese Investorenphantasien hat nicht nur der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Werner Knopp, protestiert, sondern als verantwortlicher Minister auch Manfred Kanther.

Was bleibt, sind Spekulationen und als wahrscheinlichste aller Lösungen ein dauerhaftes Provisorium. Der Stiftungsrat des Preußischen Kulturbesitzes hat jedenfalls schon einmal das gemacht, was die Berliner Tradition in Situationen verlangt, da die Probleme auf den Nägeln brennen und tragfähige Konzeptionen in weite Ferne gerückt sind: er hat einen Bauwettbewerb ausgeschrieben. Denn die Konzeption einer Bibliothek in zwei Häusern ist nur realisierbar, wenn der Altbau und die darin befindlichen Bücher vor dem Verfall gerettet werden. Zu DDR-Zeiten wurde die Ruine des wilhelminischen Kuppellesesaals abgetragen, um in dem so freigeräumten Innenhof einen Magazinturm hochzuziehen, der aus funktionalen wie buchkonservatorischen Gründen zum Problem geworden ist. Der Bauwettbewerb sieht den Abriß dieses Turms, den Bau eines modernen Lesesaals und die Sanierung der Seitenflügel vor, in denen sich hinter der straßenseitig dreigeschossigen neobarocken Fassade auf 13 Geschossen die Magazine stapeln. Die Bauzeit wird von der Bundesbaudirektion – bei geschätzten Kosten von 600 Millionen (!!!) – auf 18 Jahre hochgerechnet. (Zum Vergleich: Die

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Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main errichtet einen Erweiterungsbau in der Größenordnung der westlichen Staatsbibliothek für 240 Millionen.) Selbst wenn man naiv an eine stabile Halbwertszeit solcher Planungsdaten glaubt, erscheint eine Realisierung doch sehr fragwürdig – insbesondere angesichts der übrigen Bauaufgaben, die auf die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in den nächsten Jahren in Berlin zukommen. In welchem Maße der Benutzerbetrieb bei dieser Totaloperation am lebendigen Bibliothekskörper aufrechterhalten werden kann, ist noch vollkommen offen. Im Westhafen wird derzeit ein Speichergebäude zu einem Magazin ausgebaut, das 1,7 Millionen Büchern als Zwischenlager dienen soll. Ebenfalls unklar ist, ob es sich hierbei lediglich um eine Interimslösung handeln wird oder ob sich damit das Modell einer Bibliothek in drei Häusern abzeichnet. Was man sich in der Senatsbaubehörde, frei von jedem Sachverstand, durchaus vorstellen kann.

Vor dem Krieg konnte die Staatsbibliothek etwa 50 Prozent der Weltproduktion an wissenschaftlicher Literatur erwerben, eine Quote, die von der Library of Congress noch heute erreicht wird. 1992 ist diese Zahl auf 20 Prozent zurückgegangen. Wie können also die vorgesehenen enormen Finanzmittel legitimiert werden, wenn damit lediglich der Charakter einer zwar gehobenen, aber im internationalen Vergleich doch zweitklassigen Institution zementiert wird? Die Bibliothekare jedenfalls träumen von einer zentralen Fernleihbibliothek in Berlin, die sich in Kooperation mit den anderen europäischen Bibliotheken auf die Sammlung seltener oder extrem teurer Literatur konzentrieren könnte. Das jedoch wäre ein politische Entscheidung, die sich im Rahmen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, deren Fortbestand in der gegenwärtigen Struktur ohnehin nur bis 1995 gesichert ist, kaum realisieren ließe. Denn deren Stiftungsauftrag besteht allein in der Zusammenführung der ehemaligen preußischen Kulturgüter in Berlin und deren Pflege bis zu einer „Neuregelung“ ...

All das würde viel Geld kosten und könnte realistisch nur in einem bundesstaatlichen Rahmen umgesetzt werden. Doch wenn es möglich ist, Blauhelmeinsätze im Wüstensand zu organisieren, sollte es kein Sakrileg gegenüber bundesrepublikanischen Glaubenssätzen darstellen, über die zukünftige Ausgestaltung der Kulturhoheit der Länder nachzudenken. Würde im Zuge derartiger Überlegungen und parallel zum Regierungsumzug nach Berlin eine solche Bibliothek konzipiert, die über Deutschland hinaus wirksam werden könnte, müßte über die noch leeren und phantasielos überplanten Bauplätze im Stadtzentrum noch einmal nachgedacht werden.