Albanien fürchtet einen Krieg im Kosovo

Der Anspruch auf eine Wiedervereinigung aller Albaner wurde mittlerweile fallengelassen  ■ Aus Tirana Erich Rathfelder

Die Frage, was geschehen würde, wenn es zu einer militärischen Aktion Serbiens im Kosovo käme, erregt die albanische Öffentlichkeit. Ein derartiges Vorgehen würde zwangsläufig in einem Blutbad und einem großen Balkankrieg enden, in den neben Serbien auch Albanien, Makedonien, Bulgarien, ja sogar Griechenland und die Türkei hineingezogen würden, erklärt der albanische Präsident Sali Berisha. Wenn auch die albanische Frage angesichts der dramatischen Ereignisse in Bosnien-Herzegowina in den westlichen Medien in den Hintergrund gedrängt zu sein scheint – der Konflikt auf dem südlichen Balkan „schwelt und kann sich jederzeit in einen Flächenbrand verwandeln“.

Seit der Londoner Konferenz von 1913, als Albanien auf Betreiben Rußlands und Großbritanniens gegen den Widerstand Österreich-Ungarns geteilt und der Kosovo an Serbien abgetreten werden mußte, leben die heute rund sieben Millionen Albaner in mehreren Staaten. In Albanien selbst wohnen knapp die Hälfte aller Albaner des Balkans, es sind rund 3,3 Millionen Menschen, die nach den Jahrzehnten der Isolation, die das kommunistische Regime dem Land bescherte, den Anschluß an die Nachbarländer finden wollen.

Im Kosovo, das von Serben als Herzland der serbischen Kultur angesehen wird, sind es rund zwei Millionen, die, als Minderheit im serbischen Staat definiert, fast 90 Prozent der Bevölkerung stellen. Auch in Makedonien gelten die rund 750.000 Albaner, die dort über 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen, als eine „Minderheit“. Weiterhin gibt es albanische Minderheiten in Serbien selbst, in Griechenland und auch in Montenegro, wo der albanische Bevölkerungsanteil knapp unter 10 Prozent liegt.

Nach dem Fall der Berliner Mauer hatten viele Albaner gerade im Kosovo und in Makedonien gehofft, daß auch der Eiserne Vorhang zwischen Albanern und Albanern fallen würde. Die albanischen Gebiete sollten wie Deutschland wiedervereinigt werden, war damals die gängige Forderung, die in den Nachbarländern natürlich auf heftige Ablehnung stieß. Würden die von Albanern bewohnten Gebiete nämlich vereinigt, müßte Serbien den Kosovo und Makedonien, fast ein Drittel seines Staatsgebietes, abtreten. Andererseits jedoch haben Makedonien und Serbien unterschiedliche, ja gegensätzliche Interessen. Käme es nämlich zum offenen Krieg im Kosovo, würden nicht nur Hunderttausende Albaner nach Makedonien flüchten. Die makedonischen Albaner würden darüber hinaus wahrscheinlich in den bewaffneten Konflikt gezwungen. Eine Kettenreaktion wäre die Folge, denn die alten Kräftekonstellationen, die zu Beginn des Jahrhunderts bestanden, sind wieder aufgelebt: Serbien, Griechenland und vielleicht auch Montenegro würden dann Albanien, der Türkei, Makedonien und auch Bulgarien gegenüberstehen.

Um nicht noch mehr Öl in das Feuer der Kriegsgefahr zu gießen, wurde der Anspruch nach Wiedervereinigung mittlerweile von allen verantwortungsbewußten albanischen politischen Führern – wenigstens nach außen hin – fallengelassen. Erleichtert wird diese Haltung durch die ökonomische Schwäche Albaniens, das auch 1993 immer noch zu den ärmsten und technologisch rückständigsten Ländern der Welt gehört. Damit verliert eine Vereinigung für die albanische Bevölkerung Makedoniens und sogar des Kosovo an Reiz. So suchen die dortigen politischen Führer wenigstens übergangsweise nach eigenen Lösungen. Es gehe ihm nicht um die „albanische Vereinigung, sondern darum, die demokratischen Spielräume für Albaner in den betreffenden Ländern zu erweitern“, erklärt der albanische Präsident Sali Berisha.

Der im Mai 1992 gegen den Willen der serbischen Behörden in einer demokratischen Prozedur gewählte Präsident Kosovos, Ibrahim Rugova, trägt sich mit ähnlichen Gedanken. Er schlägt einen neutralen Kosovo vor, der sowohl nach Serbien wie auch Albanien offen sei. Das der Apartheidpolitik Südafrikas ähnelnde Vorgehen Serbiens in Kosovo müßte jedoch sofort beendet werden: Die über 130.000 entlassenen Albaner müßten wieder eingestellt und die demokratischen Spielregeln wieder in Kraft gesetzt werden.

Weniger dramatisch, doch um so komplizierter liegen die Dinge in Makedonien. Die albanische „Partei der Prosperität“ ist mit fünf Ministern an der Regierung beteiligt, und das in einem Staat, der von der makedonischen Bevölkerungsmehrheit als makedonischer Nationalstaat definiert wird. Die Hauptforderung der Albaner zielt deshalb zunächst darauf, als gleichberechtigte Nation anerkannt zu werden, zumal die Albaner im Westen des Landes die übergroße Mehrheit stellen.

Nevzat Halili, der wegen seiner umsichtigen, auf nationalistische Phrasen verzichtenden Politik zeitweise von Nationalisten angegriffene Führer der Albaner in Makedonien, hat in den letzten Jahren darauf geachtet, den Bogen der Forderungen nicht zu überspannen. Zwar beklagen die Albaner nach wie vor, im Staate der Makedonier als Bürger zweiter Klasse behandelt, im Schulsystem benachteiligt, in der Bürokratie und in der Polizei kraß unterrepräsentiert zu sein, von Wiedervereinigung ist jedoch deutlich seltener die Rede. Dazu hat die makedonische Regierung unter Präsident Gligorov beigetragen, die bemüht ist, freundschaftliche Kontakte zu Albanien zu knüpfen. Die Verkehrsverbindungen zwischen beiden Ländern werden ausgebaut, sie sind wichtiger Bestandteil der geplanten Verbindungen zwischen Istanbul und den albanischen Hafenstädten.

Auch in Montenegro scheinen die Spannungen zwischen Albanern und Montenegrinern abzuflauen, und zwar in dem Maße, wie die Spannungen zwischen Montenegrinern und Serben steigen. Mit Griechenland dagegen, wo die im Nordwesten des Landes lebenden griechischen Albaner zwar im großen und ganzen unbehelligt bleiben, sind nach der Ausweisung von Zehntausenden albanischer Wanderarbeiter in diesem Frühsommer die Beziehungen zwischen beiden Staaten abgekühlt.

Für den Abgeordneten der regierenden Demokratischen Partei Albaniens, Dülber Vrioni, kommt es vor allem darauf an, „die Wirtschaftsreformen durchzuführen und ökonomisch einen Sprung nach vorn zu machen“. Die meisten Konflikte mit den Nachbarn könnten geregelt werden, die Lage im Kosovo jedoch sei unerträglich für die dort lebenden Albaner. Deshalb hoffe Albanien auf internationale politische Unterstützung. Sollte es im Kosovo zu sogenannten „ethnischen Säuberungen“, also zum Krieg, kommen, hoffe Albanien auf militärischen Schutz, auch von der Nato, deren assoziiertes Mitglied Albanien ist, so Vrioni. Albanien wäre andernfalls gezwungen, selbst militärisch einzugreifen, erklärt Sali Berisha, der Präsident.

Die zusammengenommen sieben Millionen Albaner könnten dann nicht abseits stehen, bekräftigt auch der Vorsitzende der Demokratischen Partei, Eduard Selami. Sowohl der kosovoalbanische Präsident Rugova wie auch der makedonische Albanerführer Halili sehen in einem solchen Falle kaum mehr eine Chance, den Krieg zu vermeiden, „der die gesamte Region ins Unglück stürzen würde“. Einig sind sich die Politiker auch darin, daß die Albaner aus eigener Kraft bestehen könnten. Denn anders als Bosnien habe Albanien Zugang zum Meer und „viele Freunde in Europa, in der islamischen Welt, überall. Und Waffen können wir uns auch beschaffen“, so Eduard Selami.

Angesichts einer Situation, in der die Weltgemeinschaft alle Versprechungen bezüglich der Integrität Bosnien-Herzegowinas gebrochen habe, finden sich die albanischen Politiker zunehmend damit ab, allein zu stehen. Trotz der Annäherung Albaniens an die Nato mochte keiner der Politiker bestätigen, daß es Sicherheitsgarantien für Albanien von seiten der Nato oder der USA gegeben habe. Die Implementierung von UNO-Truppen in Makedonien wird grundsätzlich begrüßt, vor allem die Stationierung von rund 300 US-Amerikanern an der serbisch-makedonischen Grenze. Daß jedoch UNO-Truppen auch an der albanisch-makedonischen Grenze stationiert wurden, löst Stirnrunzeln aus. Denn nach Aussagen des Kommandeurs der finnischen Truppen, Major Timo Kesäläinen, würden, „falls es zu Kämpfen im Kosovo kommt, die Nachschublinien aus Albanien über diese Grenze führen“.

Was er nicht offiziell ausdrücken will, aber auch nicht dementiert, ist die Vermutung, daß diese Nachschublinien durch seine UNO-Truppen unterbrochen werden könnten. Im Falle einer Fluchtbewegung aus dem Kosovo könnte die Grenze zu Makedonien sogar durch UNO-Truppen geschlossen werden. Die Albaner, so scheint es, müssen sich in der Tat im Falle eines Falles auf ihre eigenen Kräfte verlassen.