■ Die Türkei zwischen Terror und Demokratie
: Verdrängungskünstler

Die türkische Republik steckt derzeit in einer der tiefsten Krisen seit ihrer Gründung vor siebzig Jahren. Das Land steht vor einem Neuanfang, vollzieht jedoch nicht die notwendigen Schritte, um diesen Anfang wahrzunehmen. Immer wieder mußte die Türkei die Erfahrung machen, daß sich die Tür zur Demokratie nicht mit der Faust öffnen läßt. Der Schritt zu einer pluralistischen Demokratie, zu einer offenen und liberalen Gesellschaft aber wird mittlerweile nicht nur durch die von Militärs 1982 dem Land oktroyierte pseudodemokratische Verfassung behindert, sondern durch aktuelle Entwicklungen im Lande selbst. Trotz bester Vorsätze und Versprechen ist es der Regierung bis heute nicht gelungen, rechtsstaatliche Verhältnisse zu etablieren.

Menschenrechtsverletzungen gehören zum Alltag. Dabei steht die Kurdenfrage im Vordergrund. Vor einigen Jahren hat man es nach jahrelangem, von den Militärs und einem Teil der türkischen Rechten diktierten Verschweigen auch in der Regierung gewagt, die Kurdenfrage anzusprechen. Dem Zugeständnis, daß es Kurden in der Türkei gibt, folgte jedoch keine grundlegend neue Kurdenpolitik der Türkei. Vielmehr setzt der Staat seine Politik fort, die kurdische Identität als einen selbstverständlichen Bestandteil der Türkei zu verleugnen. Die Angriffe der „Kurdischen Arbeiterpartei“ (PKK) dienen dem Staat als Vorwand dazu, die gesamte Kurdenfrage nicht auf einer gesellschaftspolitischen und kulturellen Ebene zu diskutieren, sondern auf einer rein sicherheitspolitischen. Doch gerade diese Politik spaltet Türken und Kurden immer stärker und stürzt das Land mehr und mehr in einen Bürgerkrieg.

Die Türkei und wohl auch die Mehrheit der Türken (darunter nicht wenige assimilierte Kurden) sind nicht bereit zu einer selbstkritischen Analyse der Geschichte der türkischen Republik. Die moderne türkische Identität ist nicht nur das Ergebnis eines ungeheuren Erneuerungswillens, wie ihn der Staatsgründer Atatürk verkörperte, sie ist auch ein Produkt verschiedener Negationen. Unter anderem der Negation der Heterogenität des osmanischen Reiches, des Vorgängers der türkischen Republik. Zunächst begriff die türkische Gesellschaft den Friedensvertrag von Lausanne im Jahre 1923, der die Souveränität der Türkei nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wiederherstellte und die Grenzen der Türkei von heute international anerkannte, als einen absoluten Neubeginn.

Lausanne war erst durch einen fast drei Jahre andauernden Befreiungskrieg möglich geworden. Der Vertrag von Lausanne setzte den von Sèvres aus dem Jahre 1920 außer Kraft. In diesem Vertrag von Sèvres war vorgesehen, daß die Türkei zu einem kleinen Staat in Anatolien schrumpfte. Andere Teile Anatoliens wurden von den Siegermächten besetzt. Außerdem sollten dort ein kurdischer und ein armenischer Staat entstehen. Noch heute lösen deshalb Begriffe wie „kurdischer Staat“ oder „befreites Armenien“ im türkischen Bewußtsein die Assoziation „Sèvres“ aus, d.h. Teilung und Existenzbedrohung. Lausanne dagegen steht für Souveränität und den gewonnenen Befreiungskrieg. Sèvres und Lausanne stellen nach wie vor existentielle Tabus in der offiziellen Geschichtsschreibung dar.

Da im Vertrag von Lausanne von der Existenz einer kurdischen Minderheit in der Türkei nicht die Rede ist, kann es nach türkischer Logik eine Kurdenfrage in der Türkei nicht geben. Kann aber die Identität eines Volkes am grünen Tisch beseitigt werden? Wohl nur, wenn dem dort geschlossenen Vertrag eine gelungene Assimilation folgt. Die Türkei hat sich bemüht, diese Assimilation in den letzten siebzig Jahren an den Kurden zu exerzieren, teilweise mit Erfolg. Türkische Regierungen können immer wieder auf hohe Staatsbeamte hinweisen, die kurdischer Abstammung sind und ganz nach dem Leitspruch von Atatürk „stolz sind, Türke zu sein“. Entscheidende Faktoren dafür, daß eine gänzliche Assimilierung der Kurden gescheitert ist, sind letztlich einerseits die ungenügende wirtschaftliche Entwicklung in der Region, verbunden mit der Bevölkerungsexplosion, die besonders im Osten des Landes stark ist, sowie andererseits die Tatsache, daß es auch eine kurdische Identität außerhalb der Grenzen ded Landes gibt, die sich von der Türkei aus nicht beeinflussen läßt. Die Kurden in der Türkei sind aber auch keine Einwanderer, die nichts anderes als den Wunsch hegen, sich mit der Mehrheit zu verschmelzen. Sie sind seit Jahrtausenden auf anatolischem Boden einheimisch, haben sich im Laufe dieser Zeit mit verschiedenen Kulturen berührt, auch mit der türkischen, ohne die eigene kulturelle Identität gänzlich aufzugeben.

Woher rührt die Sehnsucht des türkischen Staates nach Homogenität? Einerseits vom Wissen darüber, daß die Türkei kulturell alles andere als homogen ist, andererseits aber auch von einem Trauma, daß das Land von außen, also von den Nachbarn, nach wie vor bedroht wird und separatistische Tendenzen im Inneren bestehen. In der Tat grenzt die Türkei nicht gerade an befreundete Staaten, wenn man dabei an Armenien, Griechenland, Syrien oder auch an den Iran denkt. Es ist kein Geheimnis, daß kurdische Guerilleros im von Syrien kontrollierten Teil des Libanon ihre Stützpunkte und Ausbildungslager haben und ihr Führer Öcalan von Damaskus aus Interviews zu geben pflegt.

Kann in der Türkei von heute eine Demokratisierung ohne eine selbstkritische Betrachtung der eigenen jüngsten Geschichte erfolgen? Kann ohne eine solche Betrachtungsweise eine sinnvolle und konstruktive Minderheitenpolitik entwickelt werden? Die türkische Gesellschaft gleicht inzwischen einem geübten Verdrängungskünstler. Über die von den Militärs verübten Greuel nach dem Putsch von 1980 spricht heute kaum noch jemand. Schämt man sich, öffentlich darüber zu sprechen, vor den Augen der ganzen Welt? Verstößt das vielleicht gegen irgendeinen männlichen Ehrenkodex? Es ist aber ein Irrtum zu glauben, daß man durch Verdrängen und Verschweigen die bösen Schatten, die einen verfolgen, abschütteln kann. Wer über Massaker an Armeniern im Jahre 1915 in der Türkei nicht sprechen will, wird im Jahre 1993 ratlos vor einem ausgebrannten Hotel in Sivas stehen, in dem sich freidenkerische Künstler aufhielten – Grund genug für eine fanatische Menge von „Gläubigen“, das Haus in Flammen zu setzen. Sie wurden von den Sicherheitskräften vorsätzlich nicht daran gehindert. Fünfunddreißig Menschen starben an diesem Tag. Kein Grund für die türkische Gesellschaft, über sich selbst nachzudenken, über ihr Verhältnis zur Gewalt, über ihre Toleranzfähigkeit. Schnell wird ein Schuldiger gesucht, es ist eines der Opfer, dem die ganze Mordbrennerei galt: der Schriftsteller Aziz Nesin. Er habe durch seine Äußerungen die gläubigen Menschen verunglimpft. Von Provokation ist die Rede. Wieder einmal wurden die Opfer in die Hemden der Täter gesteckt und zu ihrer zweiten Hinrichtung geführt. Eine Gesellschaft, die so verlogen mit sich umgeht, wird schwer zur Ruhe finden, ebensowenig wird sie an Selbstsicherheit gewinnen. Vielmehr schwankt sie zwischen Selbstmitleid und Größenwahn, wird sich niemals von ihren Komplexen befreien können.

Es ist an der Zeit, daß wir den Blick auf uns selbst richten und den Feind in uns erkennen. Einigen selbstkritischen Fragen dürfen wir nicht länger ausweichen: Ist die türkische Gesellschaft eine offene und tolerante Gesellschaft? Ist sie bereit für die kulturellen und gesellschaftspolitischen Umwälzungen, die auf ökonomischem Gebiet bereits voll im Gange sind? Welche Rolle spielt das Martialische, das durch die wie ein Heiligenschein über allem schwebende Armee repräsentiert wird, für die psychologische Entwicklung türkischer Männer? Hat man nicht manchmal den Eindruck, die Armee wäre nicht ein Teil des Staates, sondern mit ihm identisch?

Vor allem das Staatsverständnis muß sich in der Türkei grundlegend ändern. Der moderne Staat ist kein Über-Ich seiner Bürger. Er funktioniert nicht durch die Hörigkeit seiner Untertanen, sondern durch die aktive Beteiligung seiner Bürger. Er ist eine auf freiem Willen fußende und von ihnen allen gemeinsam durch Selbstbestimmung geschaffene Institution, ein Ausdruck gemeinsamen Willens. Insbesondere in Ländern mit ethnischer und kultureller Vielfalt könnte der Staat eine wichtige Rolle für die Identität und den Zusammenhalt der Nation spielen.

Dieser Text entsteht außerhalb der Türkei, in der deutschen Hauptstadt Berlin. Doch Berlin ist mit seinen 150.000 türkischen Einwohnern auch eine türkische Großstadt. Der Autor dieses Textes schreibt ihn auf deutsch, nicht weil er mit Berlin kokettieren will, sondern weil er alle seine Artikel auf deutsch schreibt, weil Deutsch, die Sprache, die er mit acht Jahren zu lernen begann, zu seiner Lebens- und Arbeitssprache geworden ist. Daß er dennoch, diesen Artikel schreibend, das Gefühl hat, ihn hier und jetzt schreiben zu müssen, verdankt er seiner Muttersprache Türkisch, die tief in seinem Inneren sitzt, wie die liebevolle, manchmal auch von Sehnsucht verklärte Erinnerung an eine zu früh verlorene Mutter.

In dieser von Xenophobie und Rassismus wieder eingeholten Zeit bleibt unsereinem nur die Hoffnung, daß etwas von dem, was wir in unserer Fremdsprache sagen, übersetzt wird in die eigene, und etwas von dem, was uns in die Wiege gelegt wurde, in unsere Fremdsprache gelangt. Zafer Senoçak

Autor in Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Atlas des tropischen Deutschland“.