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„Mir blieb fast das Herz stehen“

■ Wiesbadens Westendviertel am Tag danach: Geschockt stehen Türken und Kurden auf der Straße und betrauern den Tod ihres Landsmanns / Katastrophentouristen gaffen gierig

„Wir saßen beim Kartenspiel, als die Tür aufging und einige mit Benzin gefüllte Plastiktüten in das Lokal geworfen wurden. Gleich danach stand alles in Flammen.“ Der 53jährige türkische Frührentner, der aus Angst seinen Namen nicht nennen will, rettete sich mit einem Sprung aus dem Toilettenfenster der türkischen Gaststätte „Hermannseck“ in der Hermannstraße in Wiesbaden. Andere flohen durch das Küchenfenster vor den Flammen im Gastraum. Panik war unter den 20 Gästen – fast alles ältere Menschen – ausgebrochen. Stühle und Tische wurden umgerissen. Als sie im Hof standen, merkten sie, daß einer fehlte. Einen 31jährigen Türken aus der Mainzer Straße in Wiesbaden hatte offenbar der Schock an einen Stuhl „gefesselt“. Er verbrannte bei lebendigem Leib im „Herrmannseck“.

Wiesbadens Westendviertel am Tag danach. In Gruppen stehen die Menschen vor dem völlig ausgebrannten Lokal und vor dem völlig ausgebrannten Reisebüro und Im- und Exportladen gleich um die Ecke in der Hellmundstraße. Trauer, Wut und auch Haß. „Die das getan haben, sind keine Menschen, das sind Barbaren“, sagt einer, der im „Herrmannseck“ gerne seinen Tee trank. „Da waren doch nur alte Leute, die ein bißchen Karten spielen und Spaß haben wollten – und dann kommen diese verrückten Terroristen.“ Auf den rußgeschwärzten Eingangsstufen zum „Herrmannseck“ liegt ein Blumengebinde. Der hagere alte Wirt, der selbst Kurde ist, aber seit Jahr und Tag mit seinen türkischen Nachbarn „in Ruhe und Frieden“ lebt, dreht unablässig die Gebetskette in der Hand. Er hatte am Donnerstag Glück im Unglück: „Ich war bei meinem Hausarzt und danach noch in der Stadt. Als ich dann zurückkam, blieb mir fast das Herz stehen. Die Feuerwehr war schon da. Mein Haus brannte. Es brannte auch in der Hellmundstraße.“ Seit 1968 lebt der Wirt in Wiesbaden. „Es hat nie Probleme gegeben. Jetzt ist alles kaputt.“

Vor der kleinen Moschee in der Hellmundstraße stehen drei Polizisten. Sie bewachen den Gang der Gläubigen zum Freitagsgebet. Direkt neben der Moschee ist der türkische Sportverein, der am Donnerstag auch angegriffen worden war. „Da kamen vier Männer rein und sagten, wir sollen abhauen, weil hier jetzt gleich alles abgefackelt werde“, erzählt ein junger Türke, der mit Türk Sport Kulübü in der Wiesbadener C-Klasse kickt. „Wir haben erst gedacht, die machen Spaß. Aber dann hat einer mit einem Knüppel das Gasrohr zerschlagen, und die anderen haben angefangen, die Schaufensterscheibe zu zertrümmern.“ Vom Lärm bei Türk Sport aufgeschreckt, kamen dann türkische Männer aus dem „Casa Blanca“ direkt gegenüber. „Da sind die losgerannt, die Straße runter. Ein Polizist ist denen nachgelaufen.“

Die Männer vorm „Herrmannseck“, von Türk Sport und vorm Reisebüro sind sich einig: „Das waren die Terroristen von der PKK.“ Und ein Kurde sagt unter zustimmendem Kopfnicken der anderen: „Die Mörder haben den kurdischen Namen mißbraucht.“ Ein 43jähriger Türke mit breiten Schultern, der Stammgast im „Casa Blanca“ ist, redet davon, daß man sich jetzt bewaffnen müsse. Sie hätten ohnehin schon Angst vor den Rechtsradikalen – „und jetzt haben wir Angst vor einem Überfall der PKK-Terroristen“. Ein anderer Türke macht die „deutschen Behörden“ für die Überfallserie mit verantwortlich: „Die lassen die Kurden als Asylbewerber ins Land. Die klauen hier Autos, erpressen Schutzgelder oder töten Türken.“

Noch immer zieht durch die beiden Straßen Brandgeruch. Im Kleineleute-Viertel mit dem „Plus“-Markt an der Ecke, dem türkischen Gemüseladen und den kleinen deutschen und türkischen Handwerksbetrieben und Geschäften sind die Anschläge das Thema – auch bei den deutschen WiesbadenerInnen. Die stehen auf der anderen Straßenseite, auf Distanz zu den Türken. Und sie reden vom „Mißbrauch des Gastrechtes“ durch „die Ausländer“. Auf den Einwand einer jungen Frau, daß die Türken hier doch nichts dafür könnten, wenn andere „Bomben“ auf sie würfen, entgegnet eine Rentnerin: „Wenn die Türke net hier wärn, wärn da auch kei Brandsätz gefloche.“ Ansonsten herrscht das Schweigen. Kopfschüttelnd betrachten sich die Menschen die verkokelten Fassaden der zwei Häuser. Eine Art Katastrophentourismus etabliert sich in Wiesbadens Westend. Bei „Ali Baba“ werden mehr Döner als sonst verkauft. Im „Casa Blanca“ gibt es keinen freien Platz mehr. Und die Polizei fährt pausenlos Streife. Klaus-Peter Klingelschmitt,

Wiesbaden

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