Von Wilhelms Muff befreit

■ Trivialfilme der zwanziger Jahre im Babylon Mitte

Das Kino Babylon Mitte wurde von Hans Poelzig Ende der zwanziger Jahre schon als „Filmkunsthaus“ errichtet. Der Rosa-Luxemburg-Platz hieß damals noch Bülowplatz und lag mittenmang im sogenannten „Scheunenviertel“. Die dort ansässige Mischung aus Proletariern, Huren, Gaunern, roten und braunen Polit-Schlägern und osteuropäischen Juden im Schtetl entlang der Grenadierstraße war der Kontrapunkt zum leuchtenden Westen im „goldenen Jahrzehnt“ der Stadt. Der Mythos dieses Kiezes hat Krieg und Abriß überlebt, die „geile Meile“ Oranienburger Straße und die Kulturunternehmer in den Hackeschen Höfen zehren davon.

Das Babylon also ist der richtige Ort für die 16 „Trivialfilme“, die der Filmhistoriker Michael Esser unter dem programmatischen Titel „Liebe, Lust und Laster – die wilden zwanziger Jahre in Berlin“ zusammengestellt hat und deren Vorführung im November und Dezember der Pianist Jürgen Kurz (mit wechselnden Kollegen) musikalisch begleiten wird.

Den Auftakt machte „Das Tagebuch einer Verlorenen“. Georg Wilhelm Pabst inszenierte die Geschichte eines „gefallenen Mädchens“ 1929 als anti-bürgerliches Melodram und fand in Louise Brooks den kongenialen Star für seine Absichten. Um über ein Drittel hatte die Zensur den Film gekürzt, denn die explosive Mischung aus „natürlicher Unschuld“ (Brooks), „gerissenem Verführer“ (Fritz Rasp) und „sadistischer Erzieherin“ (Valeska Gert) war eines der erotischen Meisterwerke dieses Kinojahrzehnts.

Befreit vom Muff wilhelminischer Moral – und von Kriegsende bis Mai 1920 auch von der Zensur –, entstanden die „kleinen, billigen und trivialen Filme, die auf Veränderungen der ,kollektiven Seele‘ reagierten“ und „die Schaulust über Sitte und Anstand stellten“ (Esser). Sie lieferten einem Massenpublikum die Eskapaden und kleinen Schocks für die Sinne im erbärmlichen Alltag. Während draußen die Spartakisten zusammengeschossen wurden, der Mob durch die Straßen tobte, Inflation und Hungerjahre die Bürger der Republik zermürbten, wurde in den Kinos das Geschlechterverhältnis neu definiert.

Die Stunde der weiblichen Stars schlug im deutschen Film. Asta Nielsen im „Erdgeist“ von 1923, der expressionistischen Verfilmung des ersten „Lulu“-Dramas von Wedekind durch den Bühnenregisseur Leopold Jessner (am 27. November zu sehen) oder Brigitte Helm in der Homunkulus-Phantasie „Alraune“ von 1928 (Regie: Henrik Galeen; am 20.11.) sind in erotischer Hinsicht starke Frauen: Sie kokettieren, flirten, verführen und vernichten, sie sind lasziv, beweglich, offensiv und bringen gestandene Männer wie den riesigen Paul Wegener (in „Alraune“) zur Verzweiflung.

Die Filme der Reihe wirken noch nach 70 Jahren. Sie sind drastischer als die erotischen Pikanterien eines Lubitsch, ihre Handlungen oft kolportagehaft, aber sie überzeugen durch künstlerische Beweglichkeit. Ihre „Schauspieler- Regisseure“ besetzten Rollen unkonventionell (beispielsweise mit den Tänzerinnen Valeska Gert und Anita Berber), und sie bewiesen als Produzenten ihrer Filme (wie Richard Oswald und Joe May) Geschick bei der Wahl kommerziell attraktiver Stoffe.

Die Titel der Filme geben handfest Hinweise auf den Kitzel zu erwartender Enthüllungen: „Opium“ (1919, Robert Reinert), „Das Mädchen aus der Ackerstraße“ (1920, Reinhold Schünzel) oder „Dirnentragödie“ (1927, Bruno Rahn) – im Programm am 13., 14. und 21. November.

Anders als die „Zillefilme“ der Zeit, die sich in die proletarischen Quartiere vorwagten, entstanden die trivialen Melodramen im Atelier. Die Kaschemmen, Hinterhöfe, Bordelle und bürgerlichen Interieurs wurden im Studio gebaut, Außenaufnahmen auf das Allernötigste beschränkt.

Der äußerst produktive Oswald (80 Filme in 20 Jahren), der sich gegen die Kritik, seine (Aufklärungs- )Filme seien obszön, vehement wehrte, ist im Programm am 28. November mit „Dida Ibsens Geschichte“ (entstanden 1918), einem Melodram sadomasochistischer Prägung (mit Anita Berber, Conrad Veidt, Werner Krauß) vertreten.

Im Dezember folgt dann unter anderem „Asphalt“, einer der sogenannten „Straßenfilme“, den Joe May (wie Richard Oswald auch als Produzent und Autor erfolgreich) 1929 als letzten seiner Stummfilme inszenierte. Betty Amann übernahm die Rolle der verführerischen Femme fatal. In demselben Jahr wie Louise Brooks (die die Rolle der Lulu in Pabsts Wedekind-Verfilmung spielen würde) kam Amann 1928 aus Amerika nach Berlin, nachdem der international orientierte May sich in Hollywood über die Entwicklung der Tonfilmtechnik informiert hatte.

Die zwanziger Jahre waren die erfolgreichste Zeit der deutschen Filmindustrie: Jährlich wurden zwischen 200 und 500 Filme herausgebracht. Erhalten geblieben sind nur Rudimente, vielleicht zehn Prozent, die heute in den Archiven liegen. Die Stummfilm- Reihe im Babylon bietet die seltene Gelegenheit, den Horizont über die Meisterwerke von Murnau, Lang und Lubitsch hinaus zu erweitern. Andreas Nowak

„Liebe, Lust und Laster – die wilden zwanziger Jahre in Berlin“, Filmreihe im Babylon Mitte, Rosa- Luxemburg-Straße 30, samstags und sonntags im November und Dezember.