Vier geklonte Margarethen im Bett

■ Christoph Marthaler inszeniert den „Faust“ am Hamburger Schauspielhaus

Mephisto furzt. Sein teuflisches Gas explodiert und gibt eine schöne Stichflamme. Faust zündet sich seine Zigarre daran an. Mephistos Bühnenfurz im „Vorspiel auf dem Theater“ macht also Sinn als Vorwarnung des Regisseurs: Was jetzt noch kommt, ist vielleicht nicht mehr als heiße Luft. Für den neuen Intendanten des Hamburger Schauspielhauses, dessen Auftakt ja noch ganz vielversprechend war, wäre das allerdings bedauerlich. Christoph Marthaler mit seinem „Faust“ schien genau das Richtige zu sein – sozusagen als Fortsetzung der Reihe „Junge Wilde“ in Hamburg. Marthaler ist zwar nicht mehr ganz so jung, dafür aber um so wilder. Wüst ging es in seinen Inszenierungen schon immer zu. Der abgebrochene Musikstudent, Bühnenkomponist, Kabarettist und seit einiger Zeit auch Regisseur, ist bekennender Trinker. In sein Theater könne man „eintauchen“, hat das Schweizer Theater-Ungetüm gesagt. Bei ihm könne man auf der Bühne die Flaschen zählen.

Marthalers „Faust“ in Hamburg hat nun allerdings weder Flaschen auf der Bühne noch irgendwelche Tassen im Schrank. Er fährt in „Auerbachs Keller“ weder ein noch aus, all das kommt hier gar nicht mehr vor. Faust ist bereits interniert: in der geschlossenen Abteilung.

Anna Viebrock hat diese Verwahranstalt auf der Bühne als eine feste Burg gebaut. Eine Drehtür führt in eine Nische mit dem Hinweisschild: „Kein Ausgang!“ Allerdings machen weder die Insassen noch das Personal den Eindruck, als seien sie noch zu einem erfolgreichen Fluchtversuch imstande. Faust und Mephisto: zwei erbärmlich debile Deppen. Grund genug zum Seufzen: „Habe nun, ach...“ Aber, ach! Bei diesem Faust reicht's gerade mal eben noch zu einem unartikulierten Stammeln. Es herrscht in jeder Hinsicht strenge Reduktion. Was an Text noch übrigbleibt, ist ein einziger Monolog, mehr oder weniger wahllos auf verschiedene Sprecher oder Stammler verteilt. Der Titel hatte es schon angedroht: „Goethes Faust. Wurzel aus 1+2.“

Was immer das genau heißen soll, es ergibt auf jeden Fall etwas, das nicht „aufgeht“. Bei Marthaler soll auch gar nichts aufgehen. Noch nicht mal ein winziges Licht. Auch die Aufzugtür an der hinteren Anstaltswand geht nie auf, obwohl er rumpelt und ratternd immer wieder mal auf und ab fährt. Dann erwachen plötzlich alle aus ihrem Tiefschlaf, in dem sie die meiste Zeit vor sich hindämmern: die vier Anstaltswärter mit ihren Angelruten auf der Empore, die vier Pianisten an ihren eingemauerten Klavieren, die vier scheinbar geklonten Margarethen im Bett, die drei irren Ärzte und ihre Patienten Faust und Mephisto. Alle starren sie geschockt auf die polternde Aufzugtür. Wird dort hinter der Bühne am Ende der letzte Rest von „Sinn“ aus dem Theater abtransportiert?

Das wäre für Christoph Marthaler wahrscheinlich gar keine ernstzunehmende Frage. Natürlich hat er keine Botschaft. Seine Stücke sind ein immer wieder variierter Trauermarsch der Agonie. Die Pianisten klimpern still, leise und unheilschwanger Eric Satie. Die Nervenärzte präparieren Schalentiere oder essen Papier. Die vier Margarethen liegen stocksteif nebeneinander im Klappbett und verlangen mit unbewegter Stimme nach „Heinrich“. Es ist ein Jammer für den andernorts großartigen Sepp Bierbichler. Er hat's mit einem völlig hilf- und kraftlosen Mephistopheles zu tun (Siggi Schwientek, beängstigend hinfällig). Wie Hänsel und Gretel führen sich die beiden am Patschhändchen durch dieses grausliche Mysterium spazieren. Ein leise kichernder, schleichender Wahn-, besser gesagt: Blödsinn. Gelegentlich findet das heil- und beziehungslose Nebeneinanderherphantasieren noch zueinander. Dann übt man sich im mehrstimmigen Absingen von Volks-, Kirchen- und Kneipenliedern. „Wir sitzen so fröhlich beisammen und haben einander so lieb.“ Es ist ein Abgesang auf das Theater, zumal das deutsche Regietheater, morbid bis in die Knochen. Die Theaterkritik wird's gewiß wieder als köstliche Theater-Provokation goutieren.

Vielleicht ist es diesmal aber ja wirklich nicht mehr als heiße Luft gewesen, die Christoph Marthaler über die Bühne des Hamburger Schauspielhauses geblasen hat.

Sein „Faust“ vermittelt kaum mehr, als daß er, wie alle Marthaler-Stücke, im Vollrausch entstanden sein muß. Das kann man provozierend finden.

Vielleicht fällt einem zu Marthaler ja auch noch was Passenderes ein: das nächste Treffen der Anonymen Alkoholiker. Alexander Puschmann