Schnäppchenkauf und Menschenjagd

Europa-Abgeordnete der Grünen, Flüchtlingsinitiativen und Bürgerrechtler machten sich auf den Weg zur „Grenztour – Zu den neuen Mauern in Europa“ / Der Alltag an einer EG-Außengrenze  ■ Von Detlef Krell

Über Nacht hat sich dichter Nebel in die Oder-Niederung gelegt. Krähenschwärme über froststarren Äckern und die immergleichen Wohnblöcke von Schwedt ziehen vorbei. Bald muß der Grenzübergang nach kommen. Im Bus sitzen Frauen und Männer von amnesty international und Pro Asyl, von antirassistischen Initiativen und Flüchtlingsräten mehrerer Städte, MitarbeiterInnen von Bündnis90/ Die Grünen und Abgeordnete der Grünen im Europäischen Parlament. Die „Grenztour – Zu den neuen Mauern in Europa“ begann in Rostock-Hinrichshagen, wo nach dem Pogrom vor einem Jahr das „Durchgangslager“ für Flüchtlinge in einer ausgedienten NVA- Kaserne versteckt wurde.

Am Vortag, im Greifswalder Rathaus, gab es ein Gespräch über die Situation von Asylsuchenden in dieser Stadt. Etwa tausend leben in Greifswald. Versorgt werden sie bisher über Schecks, mit denen sie in vielen Geschäften und Gaststätten des Städtchens bezahlen können. Das „Asylbewerberleistungsgesetz“, gültig ab 1. November, soll nun die Flüchtlinge „aus dem Blick der Öffentlichkeit herausnehmen“. So jedenfalls empfindet es die Ausländerbeauftragte Christine Demski. Greifswald gehört zu den Kommunen, die gegen die Maßregel „Päckchen statt Schecks“ Klage erheben wollen. Auch aus finanziellen Gründen: Mit dem neuen Gesetz zahlen Kommunen drauf.

Für die Übernachtung in Schwedt hatte die Polizei Schutz angeboten. Es gebe dort „ziemlich aktive Rechtsradikale“. Noch nicht in Greifswald angekommen, meldete sich schon die zuständige Polizeidirektion: Wo die Gruppe denn bleibe, warum die Verspätung?

Eine beträchtliche Autoschlange läßt den Grenzübergang ahnen. Es ist zeitiger Sonntagmorgen, dennoch kehren viele Deutsche aus Polen zurück. „Die waren wohl auf dem Markt, Schnäppchen machen“, versucht sich jemand das Rätsel zu erklären. Mehdi Jafari- Gorzini ist Sprecher der Bundesarbeitsgruppe „Flüchtlinge“ von Bündnis 90/Die Grünen und lebt seit 14 Jahren in Deutschland. Sein Paß weist ihn als iranischen Staatsbürger aus. Ein Visum hat er nicht. Also wartet die Gruppe eine Stunde lang auf eine Notlösung und verwickelt derweil den Dienststellenleiter des BGS in ein Gespräch. Jawohl, bestätigt er, hier kommen Menschen durch die Oder geschwommen. „Aufgegriffene“ werden durchsucht. Hat einer Geld bei sich, werde es „gegen Quittung einbehalten“, außer einem „gewissen Betrag“, der dem Flüchtling überlassen bleibe, damit er „zu Hause wieder Fuß fassen“ könne. Mit dem konfiszierten Geld soll die „Rückführung“ finanziert werden. 1.000 DM gelten als Richtwert für den Charterflug von Berlin-Schönefeld nach Rumänien und 500 DM für den kurzen Weg über die Oder.

Die Gruppe darf passieren. Am anderen Ende der Brücke steigt Kazimierz Joskowiak, der polnische Konsul, zu. Der Bus hält an einem einsam gelegenen Friedhof. Hier ruhen polnische Soldaten, die 1945 in der Schlacht um Berlin gefallen sind. Allein in dem weiten Gräberfeld geht eine alte Frau. Der Konsul bittet, an diesem Ort einmal über „dieses Phänomen“ nachzudenken, daß „Deutschland sich wiedervereinigt hat und das alte Europa zerfällt“.

Überall in den grenznahen Dörfern sind Märkte für deutsche Kunden aufgebaut. Gartenzwerge, halbmetergroße Gartenzwerge stehen Spalier. Nächstes Ziel ist Slubice, die polnische Nachbarstadt von Frankfurt/Oder. Eine Stadt mit 17.000 EinwohnerInnen und täglich um die 35.000, zumeist deutschen, EinkaufstouristInnen. Als die Gruppe mit mehr als 50 Leuten im Kultursaal Platz nimmt, herrscht eine ungewisse Spannung im Raum. Wolf- Dieter Just von der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr stellt für die Gruppe die Fragen. Aber es hat weniger mit der Übersetzung zu tun, daß Bürgermeister Jan Tokarski die Frage nach Arbeitsmöglichkeiten für Polen in Deutschland als Frage nach Schwarzarbeit mißversteht. Es ist vielmehr eine Art Defensive. Die Mitglieder der „Grenztour“ kommen eben aus dem westlich gelegenen Teil Europas, der sich neuerdings als „Europa an sich“ ausgibt und die Hausordnung diktiert. Deren Neugier wandelt auf einen schmalen Grat; ein Fehltritt – und sie trifft frische, offene Wunden.

Hauptmann Adam Pudlo, Kommandeur der Grenzeinheiten entlang von Oder und Neiße, berichtet von 7.000 Festnahmen beim Übertritt nach Deutschland in diesem Jahr. 1992 waren es 9.200. Darunter seien aber auch polnische Bürger, die in Deutschland Schmuggelgeschäften nachgehen wollten. Seit dem 1. Juli seien 697 Asylsuchende von den deutschen Behörden nach Polen abgeschoben worden. Allein am Autobahnübergang Swiecko bei Frankfurt/ Oder stellten daraufhin 32 Personen ihren Asylantrag an Polen. Im Warschauer Innenministerium seien bisher 7 Asylanträge gewährt worden. „Wir lernen erst, mit der neuen Situation umzugehen“, erklärt der Grenzer.

Eine Teilnehmerin der Grenztour, Irena Rzeplinska vom Warschauer Helsinki-Komitee für Menschenrechte, bestätigt nach dem Forum, daß diese Zahlen geringer seien als vor dem 1. Juli angenommen. Aber die deutsche Asylpraxis habe auch zur Folge, daß sich Asylsuchende lange Zeit in den Grenzorten aufhalten, wo sie auf die Hilfe der Kirche oder engagierter BürgerInnen angewiesen seien. Die derzeit wichtigste Aufgabe des Helsinki-Komitees in Warschau sei, Flüchtlinge über die Rechtslage und die Situation an der Grenze in Deutschland aufzuklären.

Zurück nach Deutschland – über die Oderbrücke, einst als „Brücke der Freundschaft“ gebaut. Im Ratssaal von Frankfurt/ Oder geht es um die Praxis des Bundesgrenzschutzes. Die Gruppe ist sich im Prinzip einig, hier nicht über Meinungen zu diskutieren. Wichtig sind die Fakten. Horst Eisel, Abteilungsleiter im Bundesinnenministerium, bittet die Besucher, dem „organisierten Menschenhandel den entsprechenden Stellenwert zuzuordnen“. Migration, findet der Ministerialrat, „wird erst durch Schleuser in Gang gesetzt“. Schleuser, Waffenhändler und Flüchtlinge bringt er locker in einem Satz unter.

Das reicht. Reza Rassouli von SOS Rassismus in Berlin springt auf: Ob denn die Herren sich daran erinnern möchten, daß Schleuser, als es die DDR noch gab, „Fluchthelfer“ genannt wurden und politisch höchst willkommen waren. Ob die Herren einmal über Fluchtgründe nachgedacht hätten oder nur im Raster „Flüchtlinge–Kriminelle“ denken könnten.

Abends ist die Gruppe Gast des Bundesgrenzschutzes. Am Flußufer sind drei Kleinbusse mit dem neuen Stolz der Grenzschützer aufgestellt: Wärmebildgeräte projizieren jede Bewegung im Grenzgebiet auf das wachsame Auge des Grenzpolizisten. „Man kann Mensch und Tier genau unterscheiden“, schwärmt ein BGSler. Ein anderer kichert: „Jetzt geht's wieder los.“ Auf dem Bildschirm erscheint ein Pärchen. Man sieht ganz genau, wie die beiden sich umarmen und küssen. Die uniformierten Männer gucken auf den Fernseher und wissen wohl nicht so recht, ob ihnen das peinlich sein soll, vor soviel Publikum.

Die Abkürzung „GUK“ für „Grenzpolizeiliche Unterstützungskräfte“ wird hier mit „Ganztägig unter Kontrolle“ übersetzt. Drei GUKs warten in Habachtstellung auf Fragen der Besucher. Ein neunzehnjähriges Mädchen möchte über den Hilfsdienst zu einer BGS-Laufbahn gelangen. Ihre schüchternen Antworten lassen vermuten, daß der Chef sie zuvor instruiert hat. Neben ihr, der Kollege um die Vierzig geht schon ein bißchen aus sich heraus, als er von „seiner“ ersten Festnahme erzählt, die er selbstverständlich an der Seite eines regulären BGSlers bestanden hat. Die beiden Flüchtlinge, erzählt er, seien nackt durch die Oder gekommen, die Sachen zum Päckchen verknotet.

Ein neuer Tag. Das Ziel ist Seifhennersdorf, der südöstliche Zipfel Deutschlands. Spektakuläre Beutezüge über die deutsch-tschechische Grenze soll es hier geben, und eine Bürgerwehr, die sich als Polizei betätigt.

Bürgermeister Christof Lommatzsch (CDU) begleitet die Gruppe mit großem Bahnhof zu einem idyllisch anmutenden Winkel im Oberdorf. Dort warten schon die Bewohner der Handvoll Häuser unmittelbar an den Grenzsteinen. Einige schaufeln in einem mit Wasser gefüllten Graben herum. „Das ist eine ABM“, erzählt eine Frau in roter Strickjacke. „Vierzehn Monate lang sind wir mit drei Mann am Graben.“ Wie weit soll der Graben gezogen werden? „Na, bis zum Horizont rauf ...“ Die „Maßnahme“ läuft offiziell als Landschaftsgestaltung. Aber die Leute hier hoffen vor allem, daß es Diebe einmal schwerer haben werden, mit ihrer Beute über den Graben zu türmen. „Hilft das?“ fragt Claudia Roth, Abgeordnete der Grünen im Europäischen Parlament und Initiatorin der Grenztour, einen BGSler. „Überhaupt nicht“, erwidert der, „aber sagen Sie das nicht den Menschen hier.“ Der Graben sei deren einzige Hoffnung.

„Eine bodenlose Verarschung der Leute“, schimpft Claudia Roth. Sie erlebe diese Szenen als „die schlimmsten der ganzen Reise“: die mutlos vor sich hin schaufelnde Frau mit der roten Strickjacke. Und die auf ihre Wärmebildgeräte starrenden Grenzschützer.

Die meisten Teilnehmer der fünftägigen Grenztour erleben erstmals den Alltag an der EG-Außengrenze. „Was im Westen oft heruntergespielt wird, das empfinden die Menschen hier an der Grenze hautnah als eine Bedrohung“, meint Claudia Roth. Nicht der Flüchtlinge wegen, sondern „weil Ängste und Unsicherheiten instrumentalisiert werden“ und „der eiserne Vorhang vom Westen her gegen den Osten errichtet wird“. Deutsche Außenpolitik werde über den Innenminister gemacht. Keine neue Erkenntnis, doch „in welcher Konsequenz“ das geschehe, das fand sie dann doch „erschreckend“.

Dieses Erschrecken könnte, wie die Europa-Parlamentarierin die Tour resümiert, der Anfang sein, auch eigene Grenzen in den Köpfen zu überschreiten, Grenzen zwischen Organisationen und Initiativen, die sich mit Asyl oder Polizei, Bürgerrechten oder Friedenspolitik befassen.