■ Die Einigung EG-Europas und die Folgen für die Peripherie
: Was ist in Italien los?

Ein Staatspräsident, der das Land nächtens aufweckt, sämtliche Fernsehkanäle zusammenschalten läßt – nur um zu erklären, daß er nicht zurücktritt (was im Augenblick sowieso niemand verlangt hatte). Geheimdienstchefs, die reihenweise Minister anschuldigen, mit vollen Händen die Fonds der Schlapphüte geplündert zu haben, und gegen die nun wegen Hochverrats ermittelt wird. Staatsanwälte, die die Erzählungen einer mit allerlei Offizieren sentimental verbundenen Erpresserin über Putschvorbereitungen so ernst nehmen, daß darob ein ansehnlicher Teil der Generalität entlassen wird oder zurücktritt – um dann die Lady als Verleumderin einzusperren. Abgehalfterte, schon fast vergessene Politiker wie der frühere sozialistische Parteichef Craxi oder der siebenmalige Ministerpräsident Andreotti, die es nun wieder auf die politische Bühne drängt. Und mittendrin ein Volk, das nach Umfragen zu 71 Prozent gutheißt, wenn Top-Manager wie Olivetti- Chef De Benedetti wegen Bestechungsverdachts verhaftet wird, um danach mit noch größerer Mehrheit seine Wiederfreilassung wegen gefährdeter Arbeitsplätze billigt. Schmiergeldskandale, Erpressungen, dunkelmännerische Machenschaften, wohin man schaut. Ein Drittel der Volksvertreter und nahezu die gesamte Wirtschaftselite steht unter gerichtlicher Anklage, in den unteren Politebenen, den Gemeinden und Regionen, sollen nach Hochrechnungen weitere 50.000 Personen belangt werden.

Historiker ziehen gerne Parallelen: Als in den 60er Jahren die alte Zentrumsregierung nicht mehr hielt, gab es allerlei Putschansätze, um die Sozialisten nicht in die Regierung zu lassen; als die Mitte- Links-Regierung in den 70er Jahren den Problemen nicht mehr gewachsen war, förderten Geheimdienstler durch Förderung zuerst rechter, dann linker Terroristen die Angst vor dem Neuen. Jeweils mit Erfolg: Die Sozialisten ließen 1962 ihre wichtigsten Reformforderungen fallen, die Koalition aus Kommunisten und Christdemokraten kam 1978 nach der Ermordung des DC-Parteiführers Aldo Moro gar nicht erst zustande.

Natürlich gibt es auch heute allerlei Dunkelmänner-Kreise mit solchen Absichten, und daß manche Militärs und Geheimdienstler immer mal mit Gedanken an Machtergreifung spielen, liegt wohl auch in der Natur ihres Umgangs mit der Gewalt. Doch die Situation heute ist in mehreren Punkten völlig verschieden von der der 60er und 70er Jahre.

Zum erstenmal sehen die Italiener inmitten einer schweren Wirtschafts- und Politkrise keine, auch selbst nur theoretischen Alternativen mehr. Keine Wirtschaftsfraktion hat konsensfähige Marktstrategien, keine Partei bietet sich mehr fürs ganze Land als Lösung an. Die „Ligen“ Oberitaliens sehen nur ihre Klientel im Norden, die Ex-Kommunisten des Partito democratico della sinistra suchen sich als Besitzstandgaranten des Beamtenstandes um Rom herum zu empfehlen, und die Christdemokraten richten sich auf ein Drittel-Dasein im mafiosen Süden ein. Zunehmend zerfallen auch die Gewerkschaften, an deren Stellen die „Basiskomitees“ Partikularinteressen vertreten. Die Administration ist veraltet und ineffizient, von der Post über das Transport- bis zum Gesundheitswesen.

Selbst alte Hasen unter den Italologen wittern allerdings allzu vorschnell eine neue Version des uralten italienischen „Transformismus“ – alles ändern, damit alles so bleibt, wie es ist –, wie ihn Tommaso di Lampedusa in seinem Weltbesteller „Der Leopard“ auf den Punkt gebracht hat. Diese Deutung setzt nämlich voraus, daß man in Italien tatsächlich noch einmal mit herkömmlichen Mitteln der Politik und vielleicht sogar mit den alten Politikern aus dem Schlamassel herauskommen und dann die Verteilung von Macht und Mitteln betreiben kann wie vordem.

Doch im Unterschied zu den früheren Perioden gibt es heute kaum mehr etwas zu verteilen. Die Forderung der „Ligen“ nach einer Abtrennung des Nordens mit seinen Industriestandorten und Finanzplätzen spiegelt daher nicht, oder jedenfalls nicht nur, den gerne unterstellten rassistischen oder zumindest chauvinistischen Egoismus der Reichen wider: Die Sorge, der derzeit noch haltende Norden könnte durch die Unregierbarkeit der Gesamtnation am Ende auch zugrundegehen, ist keineswegs so einfach von der Hand zu weisen. Sie hat reale, vernünftige Grundlagen.

Damit ist keineswegs automatisch die Zuweisung von Schuld etwa an Mittel- oder Unteritalien verbunden, auch wenn die „Ligen“ ihre Abschottung nur durch Verteufelung der Zugewanderten zustandebringen zu können glauben. Im zunehmenden Verfall des Zentrums und des Südens zeigt sich vielmehr die abgrundtiefe Krise, in die Europas Peripherien getrieben werden. Sicher liegt ein Gutteil der Malaise Italiens auch in der Gefräßigkeit und Zügellosigkeit, mitunter auch der Unfähigkeit seiner Politiker und Unternehmer; doch der andere, größere Teil ist jenem Moloch zu danken, der sich „Vereinigtes Europa“ nennt. Keine Region hat so viel durch die EG verloren wie Italiens Süden, keine Regierung wurde von Brüssel mit so viel direkten Zuwendungen ruhiggestellt wie die in Rom. Genau das aber hat zum tiefsten aller Risse im Lande geführt. Zum erstenmal zeigt sich, daß das Modell der konzentrischen Kreise, nach dem die EG-Oberen die Staaten je nach Wirtschaftskraft und politischer Bedeutung um die starken Nationen Deutschland, Frankreich und England gruppierten, nicht taugt. Was sich herausbildet, sind nicht periphere Staaten, sondern periphere Regionen, die immer schneller verfallen. Die in den Randstaaten noch lebensfähigen Bezirke suchen sich daher abzukoppeln.

Italien findet sich so als erstes Land der EG vor einer auswegslosen Situation: Weder stehen herkömmliche Hilfsmittel – eben jener „Transformismus“ – zur Verfügung noch kann man sich von außen (Europa) angesichts leerer Kassen und grassiernder nationaler Egoismen Untersützung erwarten, noch schiebt die Weltwirtschaft durch einen neuen Boom die Probleme beiseite.

Genau diese Situation ist es, die Nischen für alle möglichen Abenteurer und Süppchenkocher öffnet. Manchen von ihnen geht es weder um eine Aufrechterhaltung des Status quo noch um eine Veränderung, sie wollen lediglich abzocken, was man aus dem Chaos herausmelken kann. So etwa die Geheimdienstler und die Ministerialen, die auf der Ebene unterhalb der Politik noch immer Millionen veruntreuen oder durch Bestechung einsacken. Andere wieder sehen die Zeit gekommen, Italien als Einfallstor für die Destabilisierung Europas insgesamt zu nutzen – schon melden die verbliebenen staatsloyalen Aufklärungsorgane wieder verstärkt amerikanische und russische Geheimdienstler, aber auch Japaner und Chinesen am Werk. Wieder andere meinen, politisch könne man dieses Chaos am Ende sicher positiv wenden und ein neues Italien (oder ein autonomes Norditalien) bauen, wie immer das auch aussehen mag.

Was Italien heute kennzeichnet, ist nicht vergleichbar mit früheren „heißen“ Phasen der Nachkriegszeit. Die Symptome, die sich hier zeigen, sind auch keineswegs nur exklusiv italienisch, sondern könnten typisch werden für die zur „Peripherie“ erklärten Staaten; auch Spanien, Griechenland, Portugal zeigen deutliche Ansätze. Italien kann so zum „Modell“ des Preises für EG-Europa werden – der Zertrümmerung einer ganzen Reihe bisher noch zusammenhaltender Staatswesen. Werner Raith