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■ Nebensachen aus RioBlondie-Power versus Gospel-Power

Express yourself. Ein Aufruf genügt, und Madonnas brasilianische Fans stöhnen vor Vergnügen. Knapp 90.000 in São Paulo, über 100.000 am Samstag in Rio de Janeiro, im Maracaña, dem größten Fußballstadion der Welt. „Wenn sie die Peitsche zwischen ihren Beinen schwingt, brüllt das Publikum begeistert“, kommentiert die Zeitung Folha de São Paulo. Die KollegInnen vom Jornal do Brasil nennen die skandalträchtige Sängerin aus den USA schlicht „die Mächtige“.

Madonna in Brasilien. Eines stand schon von vornherein fest: Mit der fesselnden Show von Skandalen, die derzeit im brasilianischen Kongreß abläuft, kann selbst die exzentrische Mega-Pop-Performance der „Mächtigen“ nicht konkurrieren. Sexuelle Orgien, Masturbation, Sado-Maso und Vibratoren unterm Kopfkissen reißen die Brasilianer nicht vom Hocker. Ihre Volksvertreter sind mit pornographischer Materie bestens vertraut, jedenfalls wenn man den Enthüllungen der neuesten parlamentarischen Untersuchungskommission über Korruption Glauben schenkt. Insbesondere ehemalige Ehefrauen und Geliebte involvierter Parlamentarier und Assessoren wissen über zügellose sexuelle Ausschreitungen zu berichten, live im Fernsehen, versteht sich.

Daß Madonna in Rio gegen Sitte und Anstand verstoßen könnte, wußte die brasilianische Gerichtsbarkeit dennoch rechtzeitig zu verhindern. Die brasilianische Flagge durfte das material girl nur von weitem betrachten, ihren muskulösen, schweißnassen Körper durfte sie mit dem gelbgrünen nationalen Symbol nicht trockenreiben. Und nicht nur das: Fans unter 14 Jahren haben den teuren Eintrittspreis (umgerechnet rund 20 Mark) vergeblich bezahlt. Die Richter an der Copacabana sind der Auffassung, daß die Jugend für das erotische Spektakel im Maracaña nicht reif genug ist.

Einmal abgesehen davon schien sich Madonna in Brasilien, und insbesondere in Rio de Janeiro, wohlzufühlen. Die Brasilianer würden ihre Show nicht so tierisch ernst nehmen wie die puritanischen Angloamerikaner, freute sie sich. Während sie mit einer schwarzen Perücke verkleidet am Strand von Rio Kokoswasser schlürfte und anschließend den atemberaubenden Ausblick vom Corcovado auf die Stadt genoß, inszenierten Madonnas Fans vor dem Hotel ihre eigene Show. Striptease von Doppelgängerinnen, eindeutige Angebote brasilianischer Verführer mit Latin appeal, auf den Madonna angeblich steht, sowie charmante Transvestiten wetteiferten um ein Handzeichen des „Superstars“. „Madonna soll wissen, daß wir mindestens genauso sinnlich sind wie sie.“ Yeah, express yourself!

Nicht nur die Fans von Madonna nahmen sich dieses Motto zu Herzen. Fernab vom Medienrummel um den weltweit bestbezahlten „Megastar“ trafen sich am selben Abend in unmittelbarer Nähe des Maracaña 150.000 Cariocas, wie sich die Einwohner Rios nennen, zum Gospelfest. 16 christliche Bands, darunten die Gruppe „Heaven metal“ aus den USA, spielten tapfer gegen den „Blondie-Power-Boom“ an. Die christlichen Künstler brauchten weder Leibwächter noch Luxuslimousinen, um sich in Rio zurechtzufinden, und auch keinen französischen Champagner, um ihren Durst zu stillen. Für die provokative Bescheidenheit wurden sie von der gesamten brasilianischen Presse mit rigoroser Nichtachtung gestraft. Astrid Prange

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