Die Flinte vor die Brust

Ein Interview mit Jürgen Zielinski zu seinem Rücktritt als Intendant des Hamburger JAK  ■ Von Karl Wegmann

Jürgen Zielinski, Noch-Leiter des Hamburger JAK („Jugendtheater für Hamburg auf Kampnagel“), hat für Ende des Jahres seinen Rücktritt angekündigt. Damit geht in Hamburg bereits das dritte Jugendtheater baden, nachdem das in den 70er Jahren gegründete Klecks-Theater zweimal Konkurs anmeldete. Bis Sommer 94 wird der Spielbetrieb aufrechterhalten, dann verabschiedet sich – schuld- und schuldenlos – ein überraschend erfolgreiches Ensemble.

Der gebürtige Dortmunder Zielinski ist einer der führenden und gleichzeitig unbequemsten Theatermacher in der deutschen Kinder- und Jugendtheaterszene. In den letzten 15 Jahren arbeitete er als Autor, Dramaturg und Regisseur, gründete 1984 das Kinder- und Jugendtheater am Landestheater Tübingen, das er bis 1989 leitete und schließlich verließ, als man ihm die ihm nötig erscheinende Autonomie verweigerte. Danach gestattete er sich mit einer Kieler Aykborn-Inszenierung einen Ausflug in den Abendspielplan, inszenierte in Berlin bei der Roten Grütze und als erster Westregisseur am damaligen „Theater der Freundschaft“ (jetzt „Caroussel-Theater“) in Ostberlin. Im Herbst 1991 erklärte er sich bereit, ein neues Jugendtheater für Hamburg aufzubauen.

taz: Überall in Deutschland werden Theater geschlossen oder aber die öffentlichen Mittel für die Häuser drastisch zusammengestrichen. Auch die Kinder- und Jugendtheater sind davon betroffen. So wurde zum Beispiel gerade das „Kommunale Kinder- und Jugendtheater“ in Frankfurt geschlossen. Ihnen will man zwar in Hamburg für das JAK mehr Geld geben, aber das reicht ihnen nicht, und Sie wollen deshalb aufhören. Leiden sie unter Realitätsverlust?

Jürgen Zielinski: Ich habe den Eindruck, ich trage mit meiner Entscheidung zu einem Realitätsgewinn in der Kultur- und Gesellschaftspolitik bei. Das, was ich an Mehrförderung erhalten soll, ist im Vergleich mit den sogenannten großen Bühnen ein Taschengeld. Wir machen schließlich Theater für ein Publikum, das später einmal dieses Land regieren wird, sind damit einer der wichtigsten kulturellen Bereiche überhaupt. Wir sind doch keine Berufsjugendlichen oder verhinderte Sozialarbeiter, sondern wir widmen uns der Kunst, der Verrohung von Sinnen etwas entgegenzusetzen.

Der Hamburger Senat will Ihnen 1,5 Millionen Mark für 1994 zur Verfügung stellen, immerhin 650.000 Mark mehr als in der letzten Spielzeit. Sie aber wollen 1,8 Millionen. Ist mit eineinhalb Millionen wirklich kein engagiertes, gutes Jugendtheater zu realisieren?

Mit diesen Haushaltsmitteln ist nur ein Programm von etwa zehn Vorstellungen pro Monat zu realisieren, aber kein kontinuierlicher Theaterspielbetrieb mit wechselnden Stücken. Die Stadt stellte vor Beginn unserer Arbeit in Aussicht, wenn sich ein neues Jugendtheater erfolgreich entwickeln würde, werde sie wieder eine feste Bühne institutionalisieren und sie mit den notwendigen Investitionsmitteln ausstatten. Das hat sie beides nicht getan. Die angebotenen 1,5 Millionen des Hamburger Senats halte ich für eine Mißachtung von Jugendkultur. Im übrigen bildet Hamburg seit mehr als einem Jahrzehnt das Schlußlicht in der Förderungsskala für Jugendtheater – gemessen an Städten vergleichbarer Größenordnung. Nur zum Vergleich: Dem Caroussel-Theater in Berlin stehen 10,4 Millionen zur Verfügung, das Theater der Jugend München eröffnet Anfang Dezember seine mit 4,8 Millionen Mark fertiggestellte Spielstätte und verfügt seit Jahren bereits über einen Jahresetat von zirka fünf Millionen, genauso wie das Grips-Theater in Berlin und das Theater der jungen Generation Dresden.

Ihre fünf Inszenierungen in Hamburg waren alle ziemlich aufwendig, um nicht zu sagen üppig. Müssen Jugendtheaterproduktionen wirklich so teuer sein.

Wir haben nicht auf Bühnenbilder verzichtet, das ist richtig. Aber eine große Oper ist es auch nicht geworden. Aufwand hin oder her, Jugendtheater muß bieten, um MTV und den neuen schnellen Sehgewohnheiten mit Bühnenbildkunst etwas entgegenzusetzen. Außerdem heißt unsere Konkurrenz auch „Phantom der Oper“ oder „Cats“, diese Musicals sind bei jungen Menschen nicht gerade unbeliebt. Und wesentlich ist auch, daß Jugendtheater hochqualifizierte und gute Schauspieler engagieren muß, sie bilden das Herz. Wenn eine totgesagte Theatergattung, nämlich das Jugendtheater, von einem ausgewiesenen Theatermacher – so lautete damals die Senatsausschreibung – wiederbelebt werden soll, und dies ohne jegliche Vorbereitungszeit, aber mit ständigem Überprüfungsdruck, so muß geklotzt und nicht gekleckert werden.

Die meisten Ihrer Inszenierungen – wie die Schulgroteske „Speckpferde“ oder „Abwege“, die dreiteilige Collage über jugendlichen Rechtsradikalismus – enden mit einem großen Fragezeichen. Denken sie, daß das den Jugendlichen weiterhilft?

Ich leide nicht unter einem Helfersyndrom. Mit dem Stück „Speckpferde“ zum Beispiel widmeten wir uns der Absurdität, daß Lehrer ihre Schüler „auf das Leben“ vorbereiten sollen, während sie selbst größtenteils mit den eigenen Lebensentwürfen und Sinnfragen unserer Zeit nicht mehr klarkommen. Kein Schüler trat in dieser Inszenierung auf. Ein Trauma der Lehrer wird in dieser Groteske auf den Punkt gebracht: Die Schüler haben ihnen den Rücken zugekehrt, die Lehrer wissen dies, verheimlichen es voreinander, widmen sich untereinander ihren pädagogischen Entwürfen und ihrer eigenen Schulvergangenheit. Am Ende steht Ratlosigkeit. Es gibt keine einfachen Antworten, deshalb muß das Theater auch vermeiden, solche zu geben. Nicht die Jugend ist überfordert, sondern die Gesellschaft, die Institution Schule und auch der traditionelle Abendspielplan des Theaters mit Visionen von Zukunft.

Das hört sich alles etwas düster an. Wo bleibt der Witz bei der Sache, oder darf im modernen Jugendtheater nicht mehr gelacht werden?

(lacht) Auch die taz leistet sich doch nur eine Spaßseite, von der Sportberichterstattung mal ganz zu schweigen. Nein im Ernst, mit der Darstellung von Gefühlen auf der Bühne ist es fast wie im wirklichen Leben: Tragik und Komik sind eng miteinander verknüpft. Verschiedene Stücke, verschiedene Lachanteile. Natürlich darf bei mir gelacht werden, aber für Konzepte nach der Formel „immer lustig und vergnügt, bis der Arsch im Grabe liegt“, gibt es in fast jeder Stadt Spezialbühnen, und die soll es auch weiter geben.

Wer macht denn eigentlich gutes Jugendtheater in Deutschland?

Was heißt schon gut? In der Jugendtheaterszene gibt es seit Jahren eine Qualitätsdebatte, fast eine Spaltung in der Szene. Die einen bejahen das sogenannte poetische Theater und verteufeln jegliche Form von Realismusnähe. Andere wiederum bekennen sich immer noch und, wie ich finde, sehr richtig zum epischen Theater in der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Prozessen wie zum Beispiel dem Rechtsradikalismus. München wiederum hält seine Tradition als poetisches Theater hoch, und darin liegt zweifelsohne eine gewachsene Qualität. Das Grips- Theater ist als Wegbereiter des emanzipatorischen Kinder- und Jugendtheaters in Ablösung vom klassischen Weihnachtsmärchen eine Institution. Das ehemalige Ostberliner „Theater der Freundschaft“, und dies gilt sicherlich auch für die anderen großen ehemaligen DDR-Kinder- und -Jugendtheater, haben das besondere Qualitätsmerkmal in der Auseinandersetzung mit Märchen und Mythen und kennzeichnen sich durch ein schauspielerisch und sprachlich hohes Niveau. Es gibt also verschiedene Handschriften, Merkmale und Eigenarten einzelner Theater, die eine besondere Qualität hervorbringen. Was nun das „gute“ Theater ist, wird hoffentlich ein Dauerstreit bleiben, der immer wieder Qualität erzeugt.

Sie haben in Hamburg Stücke von schwedischen, britischen, italienischen und Schweizer Autoren inszeniert. Gibt es eigentlich keine deutschen Jugendtheater-Schreiber, die sie interessieren?

Eine Vielzahl von innovativen Impulsen kam in der letzten Zeit aus dem europäischen Ausland. Das spiegelt sich nicht nur in unserem Spielplan, sondern in vielen Spielplänen der deutschen Jugendtheaterszene wieder. In der Tat sind deutsche Autoren in den letzten Jahren unterrepräsentiert, wenn man mal von Volker Ludwig und den Rote-Grütze-Autoren absieht und der ewigen Leidenschaft deutscher Jugendtheatermacher, die deutschen Klassiker wiederzubeleben. Auch die ganzen inländischen Autorenwettbewerbe ziehen meist Preisträger, aber keine Aufführungen nach sich. Eine Ausnahme bildet Christian Martin mit seinen Stücken „Amok“ und „Bunker“. Ich habe ein wenig das Gefühl, daß die meisten deutschen Nachwuchsautoren andauernd Grips- und Rote-Grütze-Stücke imitieren, aber einerseits deren Qualität nicht erreichen und andererseits bei uns Theatermachern längst eine Abkehr von Jargontheater, Hasse-ma-ne-Mark- Stücke, und jugendlichen Klischee-Typen stattgefunden hat. Natürlich gibt es auch andere Wege, wie zum Beispiel die Autorenzusammenarbeit, um zu interessanten Aufführungen zu kommen. Stichwort Werkstatttheater. Zur Zeit produzieren wir in Hamburg eine Uraufführung mit dem deutschen Autor Professor Jörg Richard. Das Stück „Pickelgrabferrari“ ...

Pickelgra... was?

„Pickelgrabferrari“! Der Titel weist auf eine Collagetechnik von Bildsystemen hin, ein Traumspiel von Kindheitsbildern das sich linearer Erzählweise strikt verweigert. Allerdings inszeniere nicht ich, sondern die britische Regisseurin und Choreographin Vivienne Newport, eine ehemalige Tänzerin von Pina Bausch. Work in progress! Ein spannender kreativer Reibungsprozeß mit einer eigenwilligen Regisseurin, die erstmals überhaupt im sogenannten Jugendtheater arbeitet. „Schauspiel in Bewegung“ ist der Untertitel.

Haben sie keine Angst, ihr Publikum zu überfordern?

Überhaupt nicht! Unser junges Publikum hat auch ein Bedürfnis nach unkonventionellen, respektlosen Erzählweisen. Aber apropos Zielgruppe: Wir sollten den Begriff „Jugendtheater“ dringend abschaffen. Er schreckt junge Menschen ab, weil sie befürchten, nicht ernst genommen zu werden.

Wenn man sie so reden hört und sich anschaut, was Sie in Hamburg geleistet haben, kann man sich gar nicht vorstellen, daß sie jetzt so schnell die Flinte ins Korn werfen wollen.

Ich werfe sie nicht ins Korn, sondern halte sie der Stadt vor die Brust. Aber wenn Kultursenatorin Dr. Christina Weiss ein eigenständiges Jugendtheater, ich zitiere: „politisch für zur Zeit nicht durchsetzbar“ hält, kann ich nur sagen: Ich will keinen ewig langen Leidensweg. Man kann nur eine begrenzte Zeit mit unklaren Perspektiven arbeiten. Außerdem hat Qualität ihren Preis, das müßte doch gerade in der Hansestadt Hamburg verstanden werden.