Waigel gibt baltischen NS-Opfern Almosen

■ Waigel bietet Zuschüsse für Altersheime an / SPD fordert gesetzliche Regelung

Berlin/Bonn (taz) – In Absprache mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundeskanzleramt hat Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) kürzlich entschieden, den etwa 300 jüdischen Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors in Estland, Lettland und Litauen keine Entschädigung zu bezahlen. Dies schrieb er am 27.Oktober seinem Parteifreund, dem um die baltischen Juden besorgten baden-württenbergischen Bundestagsabgeordneten Wolfgang von Stetten.

In dem Schreiben, das der taz vorliegt, heißt es: Gesetzliche Wiedergutmachungsregelungen zugunsten von NS-Opfern in den baltischen Staaten bestehen nicht. Individuelle Entschädigungsansprüche zu erfüllen, sei für die Bundesregierung auch „nicht sinnvoll“, da sie „ganz erhebliche Forderungen von Betroffenen aus dem ganzen Ostblock auslösen“ würden. Daher hätten Bundeskanzleramt und das Auswärtige Amt beschlossen, bei den bevorstehenden Gesprächen mit den baltischen Regierungen „als Entschädigung für NS- Opfer humanitäre Hilfe in Form zukunftsorientierter Sachleistungen in Aussicht zu stellen“. Über die Form der zukunftsorientierten Sachleistungen haben sich das Auswärtige Amt, das Bundeskanzleramt und der Finanzminister ebenfalls bereits konkrete Gedanken gemacht. Theo Waigel an Wolfgang von Stetten: „Hierbei ist ... an eine Unterstützung bei der Errichtung von Sanatorien oder Altersheimen für den betroffenen Personenkreis, an den Ausbau von Krankenhäusern oder an die Lieferung von Medikamenten zu denken.“

Ähnliche Vorschläge hatte bereits Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth bei ihrem Besuch in Riga Mitte Mai gemacht und bei den wenigen Überlebenden damit große Verbitterung ausgelöst. „Altersheime als humanitäre Lösung sind demütigend und eine Verhöhnung der Opfer“, kommentierte damals Margers Vestermanis, Leiter des Jüdischen Dokumentationszentrums in Riga. Denn er kann mit Dokumenten belegen, daß das Deutsche Reich Millionen von Mark aus der „Verwertung von Judenarbeit“ und der „Veräußerung jüdischen Vermögens“ gezogen hat. „Wir bitten nicht um Almosen“, sondern fordern „eine angemessene Kompensation für das geraubte Eigentum und für die geleistete Zwangsarbeit“, heißt es daher auch in einem Memorandum der Vereinigung der ehemaligen Ghetto- und KZ- Häftlinge an die Bundesregierung (siehe taz 21.10.).

Diese Debatte über Altersheimzuschüsse schien für die Überlebenden im Baltikum erledigt, als Bundespräsident Richard von Weisäcker Mitte Oktober den Staatspräsidenten von Estland und Lettland erklärte, daß er sich für „Entschädigungsregelungen“ persönlich einsetzen werde. In den baltischen Staaten erhielt er für dieses Versprechen eine gute Presse. Sehr aufmerksam wird in Vilnius und Riga daher die kurze Bundestagsdebatte am Donnerstag beobachtet werden. Denn zum erstenmal wird ein Antrag über die „Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts in den baltischen Staaten“ überhaupt parlamentarisch behandelt. Gestellt haben ihn 28 SPD-Abgeordnete, darunter fast der gesamte Fraktionsvorstand. Die Bundesregierung wird darin aufgefordert, noch in dieser Legislaturperiode die erforderliche Grundlage zu schaffen, damit den Opfern nationalsozialistischen Terrors in Estland, Lettland und Litauen „ein angemessener materieller Ausgleich für erlittenes Unrecht zugebilligt wird“. Anita Kugler