Biografisches in Krach und Tönen

■ Radical Jewish Culture Tour musikalisch in der Fabrik und erinnernd in den Kammerspielen

Die einen finden es „creepy“ (gruselig) die anderen freuen sich, da auftreten zu können, wo man „ihre Leute“ einst zum Schweigen brachte: vier New-Yorker Bands sind mit „Jüdischer Avantgarde Musik“ auf Tour in Europa. Für die Gigs in Deutschland haben sie sich bewußt die Zeit um den 9. November ausgesucht, denn die Reichspogromnacht von 1938 ist ein zentraler Bezugspunkt jüdischer Identität geworden.

Vor ihrem Auftritt in Hamburg am Montag stand eine Diskussion im halbrestaurierten Logensaal der Kammerspiele, denn die Radical Jewish Culture Tour will mehr sein, als nur ein Musikabend unter vielen. Wenn Ben Goldberg vom New Klezmer Trio in den türkischen Vierteln deutscher Städte zerbrochene Fensterscheiben sieht, kommt er kaum umhin, an die Zerbrechlichkeit der Illusionen vom Zusammenleben verschiedener Kulturen gemahnt zu werden. Selbst lange Eisenbahnfahrten durch Deutschland sind unter solchem Gesichtspunkt nicht frei von Erinnerungen an Deportationen.

Für die immer noch einigermaßen problemlos multikulturelle Musikszene in New York erscheint Europa inzwischen wie der Bauch der Bestie Intoleranz und Nationalitäten-Hass. Gerade auch in diesem Spiegel haben sich in den letzten Jahren einige amerikanische Musiker aus Jazz und Avantgarde nach ihrer speziellen jüdischen Identität befragt und verstärkt Elemente traditioneller Musik in ihre Arbeit eingebracht.

Nur, „die“ jüdische Tradition ist schwer zu finden bei einem Volk, daß außer dem festen Kern seiner Religion in den mehr als tausend Jahren seiner Diaspora Einflüße so vieler Kulturen aufgenommen hat. Das Stereotyp erwartet die schluchzende Klarinette der osteuropäischen Juden, mit ihrer improvisierten Klezmer-Festmusik. Hier findet sich aber nur eine Wurzel: Altspanische Melodien und arabisch-türkische Rhythmen der Sepharden sind genauso Teil des Erbes wie israelische Hits und der Sound der City aktuelle Realität. Und die größte jüdische Stadt ist nun einmal New York. Dort hat sich die Knitting Factory seit 1987 zum Zentrum der alternativen Music-Szene entwickelt, die auch Welt-Tourneen wie die Radical Jewish Culture Tour organisiert.

Zu hören ist eine auch von Nicht-Juden gespielte Fusionsmusik, die in der durch den Jazz gespiegelten Improvisation Altes neu zusammensetzt, im Tempo verändert und mit Solos anreichert. So wie Louis Armstrong seelig traditionelle Beerdigungsmusik in den Jazz überführte, ist hier altgewohnte chassidische Hochzeitsmusik der Ausgangspunkt.

Einige der Musiker, etwa von Hassidic New Wave, dem Projekt des Klezmatic-Trompeters Frank London, haben seit fünfzehn Jahren an Feiertagen für ihre Gemeinde gespielt, während der übrigen Zeit mit Free-Jazz Gruppen gearbeitet. Ganz andere Ohren adressiert dann Anthoy Colemans Projekt God Is My Co-Pilot: Mit Doppel-Schlagzeug und angepunkten Texten der Sängerin Sharon Topper wird im letzten Auftritt schon nach 1 Uhr nachts dem plakativen Titel radikal entsprochen.

Davor unterlegte Gary Lucas den Stummfilm Der Golem mit einer eigenen Komposition auf seinen 30-fach elektronisch modifizierten Gitarren zwischen kosmisch klagend und rockig aggressiv. Schon 1920 war das künstliche Monster, das aus dem Ghetto kommt, eine ziemliche Überraschung: Paul Wegners expressionistischer Film zeigt die Juden als dämonische Fremde hinter übermächtig trennenden Mauern, die auch die dramatische Liebesgeschichte zwischen edlem Ritter und verführerischer Rabbiner-Tochter nicht überwinden können.

Hajo Schiff