Du wolltest die Rolle ...

... jetzt spiel sie zu Ende: „Das Wunder von MÛcon“ ist Peter Greenaways engagiertester Beitrag zum Geschlechterkrieg Selbstbezichtigung, Blasphemie und barockes Mysterienspiel in einer Trilogie zum 17. Jahrhundert  ■ Von Christiane Peitz

Eine Frau wird vergewaltigt, öffentlich, 208mal hintereinander. Sie schreit, wehrt sich, bis zur Ohnmacht. Das weibliche Publikum weint, die Männer essen und halten sich die Ohren zu. Manchmal wird das Schreien von Kirchengesängen übertönt, aber das hilft nichts. Einer nach dem anderen werden die Soldaten vom Bischof gesegnet, bevor sie an die Reihe kommen; jedesmal wird eine Kegelfigur umgestoßen und ein Zettel mit der Nummer auf einen Stab gespießt. Zuletzt vollzieht sich das grausame Ritual schweigend, nur das Fallen der Kegelfigur ist zu hören. Dann wird die Leiche des Opfers auf die Bühne getragen.

„It's only a play with music“, hatte vorher jemand zu dem jungen Cosimo bemerkt. Eben dieser Cosimo schlägt wenig später die Massenvergewaltigung zur Bestrafung der unwürdigen Jungfrau vor. „You cannot touch me“, schleudert die Frau den Kirchenoberen entgegen; laut Gesetz darf eine Jungfrau nicht hingerichtet werden. Sie glaubt, ihre Unschuld schütze sie. Auch Cosimo kann sich nicht vorstellen, was sich dann vor seinen Augen vollzieht. Hinterher fühlt er sich schuldig, aber der Bischof vergibt ihm.

„It's only a play with music.“ Cosimo ist der vornehmste und naivste Zuschauer des Schauspiels über die Jungfrau und ihr Kind, das im Jahr 1659 vor Adel, Klerus, Bourgeoisie und Pöbel in einem norditalienischen Provinztheater aufgeführt wird. „Das Wunder von MÛcon“ ist ein Bühnenspektakel in drei Akten, Illusionstheater, Volksbelustigung, barockes Mysterienspiel – und ein Film von Peter Greenaway, raffiniert, üppig, virtuos wie immer. Die Augen gehen einem über. Aber in den quälenden Minuten, die die Vergewaltigungsszene dauert, sieht der Zuschauer – fast nichts. Die Männer fallen hinter einem Vorhang über die Frau her: Schatten auf einem Stück Stoff. Wenn der Vorhang geschlossen wird, sagt ein Statist zur Darstellerin der Jungfrau: „Du wolltest die Rolle, jetzt spiel sie zu Ende.“ Dann sehen wir nur noch die Schatten und wissen nichts. Wollten die neidischen Statisten der Hauptdarstellerin einen Schreck einjagen, oder machen sie Ernst? Ist die Heldin am Ende der Aufführung wirklich tot, oder gehört die Bahre mit der Leiche noch zum Theaterstück?

Peter Greenaway stellt die Gewalt nicht dar. Statt dessen zeigt er, wie sie auf der Bühne – und im Kino – konstruiert wird. Die Bilder konzentriert er zu purem Licht- und-Schatten-Spiel, dazu ein paar Geräusche: Musik und Schreie. Wie in Hitchcocks „Psycho“. Der Rest ist Einbildung. Grausam ist nicht, was wir sehen, sondern was wir zu sehen glauben. Die Gewalt spielt sich nicht vor unseren Augen ab, sondern in unserer Vorstellung. Das macht sie nicht erträglicher, im Gegenteil. Greenaways Illusionismus kippt schockhaft ins Reale, nicht indem er die Illusion überschreitet, sondern indem er sie ins Extrem treibt.

In der aktuellen Debatte über Gewalt in den Medien, Pornographie und sexuellen Mißbrauch wird gern der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ins Feld geführt. Bilder sind unschuldig. „Das Wunder von MÛcon“ stellt dieses Argument in Frage, indem die Macht der Illusion gegen die Macht des Wissens ausgespielt wird. Was nützt uns der Gedanke, daß der Filmschauspielerin Julia Ormond auf dem Set kein Haar gekrümmt wurde? Wer nach dieser Szene noch glaubt, der Verzicht auf direkte Gewaltdarstellung in TV-Nachrichten oder Kinofilmen schone das sensible Gemüt, der hat keins. Selbst wenn wir nur Schemen sehen, ist es ein Schock. Umgekehrt genügt zum Begreifen die Vorstellung, ja sie ist sogar notwendig – siehe Cosimo.

Das Theaterpublikum hat keine Ahnung, was sich hinter dem Vorhang „tatsächlich“ abspielt. Es wiegt sich in Sicherheit: Ist ja bloß Theater. Im Kino wähnen wir uns in der gleichen Sicherheit. Greenaway zieht uns den Boden unter den Füßen weg, indem er die Ebenen verwirrt. Was geschieht on stage, was auf der Unterbühne, was hinter den Kulissen? Wirkt die Szene auf uns anders, weil wir mehr wissen als das Theaterpublikum? Gibt es überhaupt Darstellungen von Unschuld oder von Gewalt jenseits des Mißbrauchs? Zwar stellt Greenaway auch diesmal ein kompliziertes, visuelles Gedankenexperiment an, aber zum erstenmal ist es nicht nur eine nüchtern-neutrale Reflexion über Ethik und Ästhetik. Zum erstenmal bezieht Greenaway Position und stellt sich der Verantwortung, die er übernimmt, wenn er sich mit Bildern unserer Vorstellungskraft bemächtigt. Gleichzeitig nimmt er das Publikum, das wie der naive Cosimo zu gerne glauben will, was es sieht, in die Pflicht. Nicht daß er die Macht der Illusion moralisch verurteilte, aber er leidet daran. Natürlich ist er zu intelligent, um zu behaupten, sie ließe sich durch Verzicht oder Zensur aus der Welt schaffen.

„,Das Wunder von MÛcon‘ handelt von der Ausbeutung eines Kindes“, schreibt Greenaway. Ausgangspunkt der Story waren zwei Werbefotografien von Oliviero Toscani, die der Regisseur bereits in seiner Rotterdam-Ausstellung „The Physical Self“ verwendete: das Benetton-Neugeborene und ein Elle-Titelbild mit einem Baby auf den Armen eines Models, das offensichtlich viel zu jung ist, um die Mutter sein zu können. Die Jungfrau und das Jesuskind in der Modeversion. Das Baby von MÛcon wird von einer häßlichen Vettel zur Welt gebracht, in einer Gegend, in der die Menschen von Krankheit und Unfruchtbarkeit geschlagen sind. Es ist die Zeit der Gegenreformation. Das Volk glaubt an ein Wunder: der erste Akt. Die achtzehnjährige Schwester des Knaben sperrt die

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Eltern in einen Holzverschlag (auf der Unterbühne), stilisiert sich zur Mutter und Jungfrau und schlägt Profit aus der inszenierten Heiligkeit des Kindes. Im Stall will sie den skeptischen Sohn des Bischofs verführen, aber der Knabe in der Krippe protestiert. „Du bist meine Schöpfung“, wehrt sich die Jungfrau, aber ihr Geschöpf wendet sich gegen sie und läßt Cosimos Ochsen den Jüngling töten: der zweite Akt. Im dritten Akt bemächtigt sich die Kirche des Kindes, beutet es noch schamloser aus und bezichtigt die Jungfrau der Gotteslästerung. Sie tötet den Bruder, der Bischof verfügt ihre Hinrichtung, und das Volk zerstückelt die Kindsleiche zum Zweck der Reliquienverehrung. Am Ende liegen auf der Bühne drei Leichen, das Ensemble verneigt sich, die Kamera fährt zurück, das adelige Publikum dreht sich um, verneigt sich und weiter die Bürger und dahinter die Bauern – Theater im Theater im Theater. Irgendwo ganz hinten sitzen wohl wir.

„Das Wunder von MÛcon“ ist auch eine illustrierte Kriminalgeschichte des Christentums. Der Klerus verhökert die Körpersäfte des Knaben, die Szene wurde in der Kathedrale von Amsterdam gedreht. Lebende Heiligendarstellungen, Muttergottes-Inszenierungen auf goldenem Thron, Reliquienverehrung als Leichenfledderei – Bilder von atemberaubender Blasphemie. Dabei nimmt der bekennende Atheist Greenaway den christlichen Wunderglauben schlicht beim Wort. Er schlägt die Kirche mit ihren eigenen Waffen.

In einer Art Souffleurkasten sitzt der Responsoriensänger. Er leiht dem Kind seine Stimme, verfügt das Todesurteil über den Bischofssohn und treibt das Geschehen voran. Dabei sitzt er selbst reglos in seinem Kasten und wird wie ein Requisit auf der Bühne hin- und hergeschoben. Ähnlich wie Prospero in „Prosperos Bücher“, dem ersten Teil von Greenaways Trilogie zum 17. Jahrhundert, verkörpert der Sänger den Autor und Regisseur. Auch er ein Akteur, ein Schreibtischtäter: Greenaways Selbstbezichtigung. Wie die Kirche und das barocke Theater laboriert das Kino an den Mysterien von Geburt, Fortpflanzung und Tod herum und findet sich nicht ab mit den Grenzen des Zeigens. Das liegt in seinem Wesen begründet, es kann nicht anders. Eben darin besteht das Dilemma. Was das Geschäft mit dem Wunderglauben betrifft, sind die Filmemacher als die profanen Erben des Priestertums keinen Deut besser. „Das Wunder von MÛcon“ ist ein Film gegen die Frömmigkeit. Seine Botschaft: Mißtraut den Bildern.

It's only a play with music. „Seid froh über die Musik“, tröstet die Zuschauerin den irritierten Cosimo, „die meisten Menschen sterben in Stille.“

„Das Wunder von MÛcon“. Buch und Regie: Peter Greenaway, Kamera: Sacha Vierny, mit Julia Ormond, Ralph Fiennes, Jonathan Lacey, Nils Dorando, GB/ Frankreich/Deutschland 1992, Cinemascope, 119 Min., OmU