■ Kanzler Kohl und die Bildungsfrage
: Das ist der Gipfel

In der Wirtschaftswissenschaft spricht man von management by terror, wenn Ziele gesetzt, Ergebnisse verlangt werden, aber zugleich die Mittel, die nötig sind, diese Ziele zu erreichen, verweigert werden. Entweder kommt es zur Revolte gegen die Zumutungen, was der seltenere Fall ist, oder aber die Firma siecht dahin. Äußerlich geschäftiger Dienst nach Vorschrift, innerlich grinsend, läßt man die Dinge laufen und erwartet das Desaster, das alle längst kommen sehen. Management by terror treibt der Staat seit bald 20 Jahren mit unseren Hochschulen: immer mehr Studierende – aber das nebenher: in Deutschland ist die Quote der Hochschulabsolventen nur halb so hoch wie in Japan, von zu vielen Studenten kann keine Rede sein –, also: immer mehr Studierende, aber kaum mehr Dozenten, so gut wie kein zusätzliches Geld. Oft reicht es nicht einmal mehr, die nötigen Geräte anzuschaffen. Skandalöse Vernachlässigung des wissenschaftlichen Nachwuchses und so weiter und so fort. Zwei Studierende drängeln sich auf einem Studienplatz. Diese Mißstände haben sich sogar bis nach Bonn ins Kanzleramt herumgesprochen, weshalb Bundeskanzler Kohl seit bald zwei Jahren einen Bildungsgipfel plant, ankündigt und verschiebt. Wie eine Wanderdüne schiebt er den Gipfel durch das Land, das neuerdings den Namen Standort trägt, Wirtschaftsstandort Deutschland. Ein Land, das aber, immer deutlicher sichtbar, Konturen des Dorfes Potemkin annimmt.

Wenn sich heute in Bonn um Kohl ein Gipfel bildet, dann ist das nicht der lange angekündigte Bildungsgipfel, sondern der Gipfel dieser Verschiebepolitik. Ursprünglich geplant war ein Treffen mit den Ministerpräsidenten, dem Wissenschaftsrat und mit den Rektoren und Präsidenten der Hochschulen. Der Gipfel sollte Entscheidungen abstimmen und eine gemeinsame Initiative für die Bildung einleiten. Eine Konferenz, die schon der föderalen Verfassung wegen nötig ist, sollen auch finanzielle Entscheidungen getroffen werden. Man bedenke: Auf der Liste der Industrieländer steht Deutschland mit seinen Bildungsaufwendungen an viertletzter Stelle, dahinter liegen nur noch Griechenland, Spanien und die Türkei. Der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt sank von 1,32 Prozent in den siebziger Jahren auf 0,93 Prozent. Dabei hätte ein Land wie die Bundesrepublik sich aufzumachen auf den Weg von der schweren industriellen Eisenzeit zu beweglicher und wacher nachindustrieller Intelligenz.

Nichts davon. Aus den Bildungseinrichtungen wird der Rest an Muße herausgepreßt. Sie werden industrialisiert, damit sich wenigstens noch die Output- Werte sehen lassen können. Vor dem Panorama bald Potemkinscher Universitäten nun ein Bildungsgipfel, der keiner ist. Denn die Konferenz mit den Ministerpräsidenten kommt nicht zustande, weil der Bund seine Mittel für die Hochschulen nicht aufstocken will. Was aber soll ein Gipfel, wenn von ihm die Aussicht auf bessere materielle Ressourcen verstellt ist? Damit nun aber der Ankündigungs- und Verschiebegipfel nicht endgültig erodiert, lädt der Kanzler Verbandspräsidenten, Gewerkschafts- und Unternehmensvertreter zum Palaver nach Bonn: Sechs Bundesminister, der Kanzler und 50 andere Sitzungsprofis. Jeder wird etwa fünf Minuten sprechen dürfen. Ein Meeting der Politdarsteller, die nichts zu entscheiden haben. Sie steigen am 11. 11. in die Bonner Bütt und werden erklären, wie wichtig Bildung für den Standort ist und daß sich Studenten und Schüler künftig beim Lernen etwas mehr beeilen müssen. Die Ministerpräsidenten haben es vergangene Woche bereits beschlossen: das Studium soll auf neun Semester begrenzt werden. Wer überzieht, soll Strafe zahlen.

Derzeit studieren deutsche Studentinnen und Studenten mehr als 13 Semester. Das ist in der Tat zu lang. Aber warum bleiben sie so lange in den Hochschulen? Doch nicht, weil es dort so gemütlich ist und weil sie sich nicht rauswagen ins feindliche Leben. Eher das Gegenteil ist der Fall. Studierende flüchten aus den schrecklichen Hochschulen. Mehr als die Hälfte von ihnen jobbt, auch während des Semesters. Das tun sie nicht nur, um Geld zu verdienen, sondern auch, weil sie im Job mehr Realität suchen und oft auch finden als in den toten Hochschulen, die zum Autisten asozialisieren.

Gespräche finden dort kaum statt. Nach Kapazitätsverordnung hat ein Professor weniger als fünf Minuten Sprechzeit für einen Studenten. Kürzlich hat in Hamburg der Fachbereich Sprachwissenschaft eine Professorenstelle in ein kleines Fach transferiert, weil dort die Zeit zwischen Anmeldung zum Examen und Prüfung zwei Jahre dauerte. In besonders überfüllten Fächern wie den Wirtschaftswissenschaften gibt es für manche Seminare einen internen Numerus clausus. Semester werden verwartet. Statt die Voraussetzungen zu verbessern, beschließen nun die Ministerpräsidenten, daß kürzer studiert werden soll. Management by terror.

Und die Studentinnen und Studenten? Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als mit einem taktisch arrangierten Studienplan die Uni zu überleben. Sie kalkulieren wie Betriebswirtschaftler. Wo lohnt sich wieviel Engagement, um welchen Schein zu erwerben? Triumph des Scheinstudiums. Am Ende ein Studium, vielleicht etwas kürzer, dafür aber verlorene Jahre.

Diese Verhältnisse treiben Studierende nicht mehr zum Protest auf die Straße. Nützt ja doch nichts, sagen sie. Frühere Protestgenerationen, enttäuschte Gläubige, appellierten mit ihrer Rebellion, der Staat möge tun, was für die Gesellschaft nötig ist. Daß der Staat dazu in der Lage ist, daran glauben die Überlebenskünstler in den Hörsälen offenbar nicht mehr. Reinhard Kahl

Journalist in Hamburg