Sprengstoff Semtex: Ein ganz gewöhnliches Produkt

■ Die Produktion des „Terroristen-Sprengstoffes“ wurde auch nach der Samtenen Revolution nicht eingestellt / Strenge Kontrollen sollen „Mißbrauch“ verhindern

Semtin (taz) – „Wir haben ein großes Problem“, sagt Petr Mošták. „Unsere Firma wird stets mit Muammar Gaddafi und Terroristen in Verbindung gebracht“. Dabei sei Semtex doch nichts anderes als ein ganz gewöhnliches Produkt, mit dem Minen entschärft und Bergstollen gesprengt würden. Und überhaupt gehe ihm der internationale Medienrummel um das Zeug ziemlich auf die Nerven. Dummerweise platzt in genau diesem Augenblick Mitarbeiter Allen Lensmith ins Chefzimmer der ostböhmischen Chemiefabrik „Explosia“. Er legt Mošták eine BBC- Meldung auf den Tisch: Bombenanschlag der IRA in Belfast, zehn Tote, zahlreiche Verletzte. Der Teil eines Geschäftsviertels wurde mit Semtex in die Luft geblasen.

Mošták lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor dem Bauch. Sein linker Fuß wippt auf dem Linoliumboden. Nach einer initiierten Schweigeminute ist er jedoch gleich wieder der Alte: der Mann, dem der Medienrummel eigentlich recht gut gefällt. Und der sich darauf vorbereitet hat: Seine Antworten wirken einstudiert, zur besseren Demonstration hat er ein faustgroßes Stück Sprengstoff in seinem Büro.

Schlagzeilen machte Semtex vor genau fünf Jahren: Im Oktober 1988 holte der mörderische Sprengstoff die Pan Am 103 über dem schottischen Lockerbie aus der Luft. 270 Menschen kamen ums Leben. Britischen Untersuchungen zufolge steckte die Semtexladung in einem kleinen Transisterradio, das angeblich mittels Koffer in Frankfurt an Bord der Maschine gebracht worden war. Der Anschlag ging auf das Konto der PLO. Diese erhielt seinerzeit kiloweise Semtex aus Libyen. Seitdem sorgt der Stoff regelmäßig für Furore: 1989 zerstörte er die französische DC-10 über der Sahara, 1991 riß er vor der Residenz des britischen Premierministers Löcher in die Downing Street, 1992 beendete er das Leben des italienischen Anti-Mafia-Richters Paolo Borsellino und fünf seiner Leibwächter.

Die guten Beziehungen der weltweiten Attentäter zur Tschechoslowakei wurden 1989 offiziell bestätigt: Václav Havel erklärte, daß die frühere Regierung insgesamt 1.000 Tonnen Semtex nach Libyen verkauft hatte. Von dort aus fielen größere Mengen Mitte der 80er Jahre auch in die Hände der IRA. „Aus unserer Firma ging nicht ein Gramm Semtex direkt an terroristische Organisationen“, betont Mošták und fügt gleich hinzu: „Die Exporte nach Libyen wurden 1981 eingestellt“. Bis 1989 sei tonnenweise Semtex nur noch nach Ostdeutschland verkauft worden.

Organisiert wurden die gutgehenden Geschäfte bis zur „Samtenen Revolution“ 1989 von der staatlichen Firma „Omnipol“. „Wir haben lediglich produziert. An wen Omnipol Semtex im einzelnen verkauft hat, wissen wir nicht“, sagt Mošták.

Heute exportiert „Explosia“ nach Aussage von Mošták nur, wenn Aufträge vorliegen, und das sei kaum noch der Fall. Frankreich, England und die USA stellten ähnliche Produkte her. Nichtsdestotrotz scheint der Sprengstoff auch in den Staaten begehrt zu sein: Die letzte große Ladung nutzte eine amerikanische Firma, um in Kuwait Bomben aus dem Golfkrieg zu detonieren. Über die genauen Abnehmer schweigt Mošták jedoch – „aus Sicherheitsgründen“. Ohnehin sei „Explosia“ beim Verkauf an die Zustimmung des tschechischen Ministeriums für Handel und Industrie gebunden. Grünes Licht wird nur erteilt, wenn eine Importgenehmigung des Käufers und eine Bescheinigung mit Angaben über den Endnutzer vorliegen. Zudem hat die Tschechische Republik vor zwei Jahren ein internationales Abkommen über Explosivstoffe unterzeichnet: Das Unternehmen ist verpflichtet, seine Produkte chemisch zu markieren. Mošták sagt: „Detektoren auf Flughäfen melden somit die kleinsten Mengen.“ Nach Ansicht von Experten hilft jedoch eine luftdicht verschlossene Plastiktüte, um die Elekronik auszutricksen.

Mit Alarmgeräten soll auch dem Semtexschmuggel aus der Fabrik vorgebeugt werden. Schon bei Betreten des Geländes mustern pflichtbewußte Sheriffs Besucher und Angestellte. Feuerzeuge und Streichholzschachteln werden am Haupttor einkassiert und mit Besitzernamen versehen. Vor der eigentlichen Produktionskammer des 200 Hektar großen Firmenareals wacht ein weiterer Ordnungshüter nebst bissigem Schäferhund. „Manchmal wollen Leute etwas über eine inoffizielle Produktion und Geheimlager wissen“, sagt Pressesprecher Gregor Vabrina, „ich kann nur versichern: bei den Kontrollen geht hier kein Semtex illegal raus.“

Es muß ja auch kein Semtex sein. Informationen über Abnehmer würden schon reichen. In einem Steinbruchunternehmen im westböhmischen Karlový Vary (Karlsbad) wurden vor einigen Tagen beispielsweise 103 Kilo Semtex entwendet. Und das trotz technisch ausgeklügelter Signal- und Sicherheitsanlagen, wunderte sich der zuständige Polizeisprecher. Finanziell ist der Schaden nicht groß: die Firma ist Kunde bei „Explosia“ und zahlt für das Kilo je nach Qualität zwischen 80 und 120 Kronen, also um die sechs Mark. Etwa 6.000 Mark bringt die gleiche Menge auf dem Schwarzmarkt.

Semtex-Experte Mošták möchte nicht ausschließen, daß dem Rezept inzwischen andere auf die Schliche gekommen sind. Damit teilt er die Meinung der beiden Journalisten Emerson und Duffy. In ihrem Buch „The Fall of Pan Am 103“ heißt es: Neben einem halben Kilo Semtex, zwei Kilo sowjetischem Dynamit ... fanden Polizisten in einer Wohnung im jugoslawischen Krusevac am 1. Dezember 1988 ein Semtex-Rezept. „Die Wohnung wurde von Mukhadeen Joban, einem palästinensischen Chemieingenieur besetzt“.

Später stellte das BKA Wiesbaden in Deutschland Semtex gleicher Güte sicher. Die böhmischen Hersteller hielten die Mischungsanleitung der illegalen Konkurrenz nun gerne zwischen den Fingern. „Um sicherzugehen, daß die Infos nicht aus unserem Unternehmen sind“, sagt Mošták. Doch trotz „guter Zusammenarbeit mit der deutschen Polizei“ rücke das BKA die Papiere nicht raus.

Umgekehrt würde natürlich auch Explosia sein Rezept nicht offenlegen. 16.000 Tonnen Sprengstoff werden in Böhmen jährlich hergestellt. Daß Semtex nur ein Prozent der Produktion ausmacht, liegt an der Effizienz des leuchtendroten Stoffes, dessen geschmeidige und klebrige Fläche sich etwa wie Kinderknete anfühlt: Moštáks faustgroßer Klumpen reicht aus, die Längsseite eines Flugzeugs wegzupusten. Tomas Niederberghaus