Das Unvorstellbare überleben

■ Ganz Bosnien hungert dem Winter entgegen, aber am schlimmsten dran sind bereits jetzt die 50.000 Muslime in Mostar / Wenn Hilfslieferungen doch mal irgendwo durchkommen können, sind garantiert keine Vitamine dabei

„Das Seltsame ist, daß sich Menschen an so vieles gewöhnen können, was vorher unvorstellbar für sie war.“ Der feingliedrige junge Mann, der dies in Sarajevo sagt, ist Musiker. „Dieses Holz“, und er deutete auf seine Geige, „haben wir im letzten Winter nicht verbrannt.“ Aber einige Bücher, darunter auch seine, hätten dran glauben müssen.

Andere Menschen in Bosnien haben mehr verloren als nur dies. Nach neuesten Hochrechnungen sind 2,7 der ehemals 4,3 Millionen Bosnier als Vertriebene oder als durch die feindlichen Armeen Eingeschlossene würdig, internationale Hilfe zu erhalten. Die meisten von ihnen haben ihre Wohnungen und Häuser verlassen müssen, viele sind von ihren Familienangehörigen getrennt. Die Päckchen und Lebensmittel, die den Überlebenden geliefert werden, deckten – käme die Hilfe tatsächlich an – auch dann nur kaum den Bedarf an Speiseöl, Salz und Zucker, an Mehl und Reis, an Seife und Zahnpasta. Vitamine mitzuliefern, das war schon letzten Winter an den kalkweißen Gesichtern der Menschen in Sarajevo abzulesen, daran wurde kaum gedacht.

Gemessen an den Verhältnissen in anderen Enklaven geht es den Bewohnern der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas jedoch noch „gut“. Jetzt, nachdem der erste Schnee in den Bergen schon gefallen ist, wird zwar die Kälte fühlbar, doch in der Hauptstadt besteht wenigstens die Hoffnung noch, daß einmal Gas und Strom auf internationalen Druck hin geliefert werden. In den anderen Enklaven ist nicht einmal dieser Hoffnungsschimmer da.

Unter den schlimmsten Bedingungen leben die 50.000 Muslime Mostars, die auf der linken Seite der Neretva zwischen zwei Fronten sitzen. Von der anderen Seite des Flusses her greifen die Verbände der kroatischen HVO an, im Rücken sitzen die serbischen Truppen im Wartestand. Diejenigen, die noch nach der Zerstörung der alten Steinbrücke am Dienstag in der Altstadt nun ohne Rückzugsmöglichkeit abgeschnitten sind und in diesen Stunden dem Angriff kroatischer Truppen entgegensehen, sind praktisch todgeweiht. Seit August kamen zwar einige Konvois nach Mostar durch, doch für die Menschen war dies ein Tropfen auf den heißen Stein: Die 380 Tonnen im August haben den Hunger hier seit Monaten nicht mehr gestillt. – Dr. Risko Tervahauta, der als Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation WHO mehrmals in die ostbosnischen Enklaven Srebrenica, Goražde und Zepa reisen konnte, weist auf die dramatischen Umstände dort hin. In Goražde hätten die mehr als 60.000 Menschen zwar immerhin noch einen bestimmten Raum. Es gebe Wasser und Bäume, also Baumaterialien, es gebe in dem Gebiet, das ungefähr einen Radius von 10 Kilometern hat, sogar etwas Landwirtschaft. In Zepa seien ein Großteil der etwa 40.000 Menschen, die im Frühsommer panikartig in die Berge geflohen waren, wieder zurückgekehrt; immerhin sei ausreichend Wasser da. Doch in Srebrenica seien die 60.000 bis 80.000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht, selbst Wasser sei Mangelware. Die Menschen lebten buchstäblich im eigenen Kot, es bestehe Seuchengefahr.

Das serbische Militär lasse nur Lebensmittelhilfe durch, nichts anderes. Da nach wie vor serbische Frauen ab und an die Hilfskonvois blockierten, würden Lebensmittel weiterhin aus Flugzeugen abgeworfen – 2.000 Tonnen seit Februar.

Airdrops dagegen sind für die Enklaven um Maglaj und Tesanj sowie um Zepce die einzige Möglichkeit, Lebensmittel zu den Hungernden zu bringen. Die 40.000 in Maglaj haben im Oktober 984 Tonnen erhalten, die 50.000 in Tesanj mit 834 Tonnen sogar noch weniger, die 18.000 Menschen in Zepce nichts. Seit der kroatisch- bosnische Krieg entflammt ist, sind die Frontverläufe in Zentralbosnien ineinander verschachtelt. Seit der Gegenoffenisve der Bosnsichen Armee in diesem Gebiet, die im Mai begann, sind auch kroatische Siedlungsgebiete zu Enklaven geworden. Spektakulär war in der letzten Woche die Flucht von über 10.000 Kroaten aus der Enklave um Vares über serbisches Gebiet. Auch die kroatische Bevölkerung leidet Hunger, obwohl es gerade in Vares gelungen war, mit der serbischen Seite einen Kleinhandel aufzubauen. Schlimmer noch sind die 60.000 Kroaten in den Enklaven Novi Travnik, Vitez und Buzovaca sowie in Kiseljak (25.000) dran, denn die Verbindungslinien zur Westherzegowina sind abgebrochen, und auch zu serbischen Gebieten gibt es keine Verbindungen mehr. Für diese Menschen ist, seit die Hilfskonvois nicht mehr kommen, ebenfalls die Lebensmittelversorgung zusammengebrochen, auch hier herrscht Hunger.

Nicht einmal mehr Informationen gibt es über die Menschen, die in den Enklaven wiederum Enklaven bilden. Ein Teil der zentralbosnischen Stadt Vitez liegt in der kroatischen Enklave und wird von Truppen des HVO gehalten. Die Munitionsfabrik der Stadt befindet sich weiterhin in kroatischer Hand. In der traditionellen Altstadt hingegen, die innerhalb dieser von Kroaten kontrollierten Zone liegt, harren 1.000 bis 2.000 Muslime aus, die manchmal sogar von der nahegelegenen britischen Unprofor- Basis Lebensmittel erhalten haben.

Auch in der Stadt Bugojno gibt es eine ähnliche Situation, dort befinden sich allerdings einige tausend Kroaten in der Altstadt, die wiederum umgeben ist von einem Ring der Bosnischen Armee. Über Lebensmittellieferungen an diese Menschen ist nichts bekannt.

Noch haben viele Menschen das Inferno überlebt.

Sie sind in eine Situation geraten, die vorher für sie „unvorstellbar“ war. „Ich weiß inzwischen nicht mehr, ob ich noch die Kraft habe, diesen zweiten Kriegswinter zu überleben“, flüsterte der junge Mann in Sarajevo zum Abschied und griff nach den Händen des Besuchers. Erich Rathfelder, Split