Emigration – eine Allegorie

■ Ein Vortrag des Exilforschers Martin Jay

„Von zartem Gemüt ist, wer seine Heimat süß findet, stark dagegen jener, dem jeder Boden Heimat ist, doch nur der ist vollkommen, dem die ganze Welt ein fremdes Land ist.“ Mit diesen Worten hat Hugo von St. Viktor im 12. Jahrhundert den Exilierten gepriesen. Ein trockener Geist wie Martin Jay, Professor in Berkeley, erster Historiograph der Frankfurter Schule, ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der intellektuellen Emigration in die USA und designierter Leiter der Villa Aurora (Lion Feuchtwangers Haus in Los Angeles, in dem der Berliner Senat eine euroatlantische Begegnungsstätte einrichtet), würde solches Pathos unangenehm finden.

Das Schicksal dieses Satzes ist bemerkenswert: Der Bulgare Tzvetan Todorov, der in Paris lebt, hat ihn bei dem Palästinenser Edward Said gefunden, der in den Vereinigten Staaten lebt, und der wiederum hat ihn bei dem deutschen Gelehrten Erich Auerbach aufgestöbert, der vor den Nazis ins türkische Exil geflohen war. Die Geschichte dieses Satzes ist emblematisch für einen Problemzusammenhang, dem auch Martin Jays Interesse gilt: der Zusammenhang von Exil und Tradition, Fremdheit und kultureller Identität.

Ein Beispiel für die Komplexität, die aus den Traditionsbrüchen und Neuanknüpfungen entsteht, wie sie für die Exilsituation typisch sind, ist die Kritik der Kulturindustrie, die in den sechziger und siebziger Jahren nach der Entdeckung von Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ hierzulande grassierte. Nachdem dieser Gestus durch Popularisierung sein Prestige verloren hatte, machte sich die Legende breit, die Kritiker der Massenkultur seien von dem bunten Treiben in Amerika schlicht überfordert gewesen und ihre Kritik sei nicht mehr als eine Abwehrreaktion. Martin Jay konnte in zahlreichen Veröffentlichungen zeigen, daß die Sache viel komplizierter war: Siegfried Kracauer etwa begegnete der amerikanischen Kulturindustrie mit großer Unvoreingenommenheit.

Kracauer glaubte, wie Jay herausfand, daß die amerikanische Massenkultur den alten avantgardistischen Traum erfüllen konnte, das kritische Potential der Kunst durch Zerstörung ihrer Autonomie und durch ihre Wiedervereinigung mit der Lebenswelt freizusetzen. Auch dieser Traum scheiterte freilich; die Schemata der verschiedensten „Weimarer Intellektuellen“ wurden im Exil mit inkommensurablen Verhältnissen konfrontiert. Die Ergebnisse dieser Begegnungen strahlten dann auf das intellektuelle Leben sowohl in den USA als auch im Deutschland der Nachkriegszeit aus.

Im Rahmen der Jüdischen Kulturtage wird Martin Jay einen Vortrag halten, der sich auf die Geschichte der kalifornischen Exilanten konzentriert. Aber man darf auf eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Exil-Geschichtsschreibung gespannt sein, denn Jay wird auch über die späteren politischen Imperative sprechen, unter denen auch seine eigene Arbeit stand. Das Bild der Emigration, meint Jay, ist in der Retrospektive zur Allegorie geworden. Jörg Lau

Am 22. 11., 16.30 Uhr, Amerika- Haus, Hardenbergstraße, Charlottenburg.