Enklave der Boheme

■ Die Filmreihe der Kulturtage im Arsenal und in der Filmbühne am Steinplatz - ein wenig zurechtgeschustert

Wer sich noch an den Doors- Film von Oliver Stone erinnert, kennt Venice Beach im Westen von Los Angeles schon ein bißchen. Man sah, wie Jim Morrison in seinem typischen Morrison-Stride durch eine wabernde Menge von gebatikten, belockten Hipsters schritt. Nur wer ganz genau äugte, konnte im Hintergrund ein weißes Haus mit eigentümlichen Wandbildern sehen: die Venice Beach Synagoge. Nur wer den Blick sekundenlang von Morrison abwandte, konnte in der Menge auch einige Herren mit Kaftan und Bärten sehen: die orthodoxen Juden, die dort seit den 50ern wohnen.

Jahrzehnte vor ihnen waren die ersten jüdischen Immigranten in die Gegend gezogen, Intellektuelle aus Europa, die billigen, stadtnahen Wohnraum mit Nähe zum Meer suchten. Dichterlesungen, Kammerkonzerte und ziemliche Armut prägten die Szene, bis die Sache, wie das so üblich ist mit den Enklaven der Boheme, betuchtere Kreise anzog. Mit den Yuppies eskalierten die Preise, aus dem Pittoresk-Bescheidenen wurde echte Armut, aus der Synagoge eine Art Selbsthilfezentrum. Die Chassiden wiederum, die später kamen, sind Osteuropäer und so leicht zunächst nicht für das Hipstertum zu begeistern. Aber im Lauf der Zeit hat man sich berappelt und für O.k. befunden, so daß nun Armendienste neben Jongleuren, Joggern und Trompetern am Strand auf- und abziehen. Dieses eigentümlichen Ortes hat sich „Number Our Days“ angenommen, ein Film von Barbara Meyerhoff, die auch ihre Erfahrungen mit dem Krebsleiden verfilmt hat, an dem sie vor kurzem gestorben ist.

Ortsbesichtigungen völlig anderer Art geben die drei Filme von Ernie Gehr, die jedem ans Herz zu legen sind, der nicht mehr schlafen kann, weil er seit Jahren nur noch schlechtes Filmhandwerk sieht. Für Gehr spricht, was Benjamin lobend über wer-war-es-noch gesagt hat: Seine Orte haben keine Atmosphäre. Höchstens haben sie ein bißchen was von einem Tatort. Jedenfalls montiert Gehr seine Kamera beispielsweise in „Side/ Walk/Shuttle“ auf einen Außenwandfahrstuhl eines weißen, pseudo-viktorianischen Hochhauses, der Soundtrack hingegen stammt von einer Party in New York, wenn ich mich recht entsinne, von ganz anderswoher. Im gravitätischen Rhythmus eines alten Schiffes scheint nun das alte Haus zu fahren, mal im 60-Grad-Winkel, mal von ganz nah, während die Autos unten wie flache Scheibchen in einem Spielzeug-Verkehrsgarten auf den Markierungen entlanggleiten wie auf einer Asymptote. Nichts hat ein Ende oder eine feste Richtung. Die Häuser von gegenüber, das Panorama der Stadt und die Kombination der Ruhe mit den disparaten Geräuschen geben der Chose etwas von einer Symphonie. Schließlich fährt sogar, wenn man schon bereit ist, aus dem Kinosessel zu gleiten, das Meer aus seinem Versteck in die Höhe. Was jüdisch daran ist? Vielleicht nicht viel, vielleicht aber die merkwürdige Exilhaftigkeit dieses Fahrens und Schwebens, die einen zu guter Letzt sogar ein wenig traurig stimmt.

Ansonsten wirkt die Reihe ein wenig zurechtgeschustert. Was um alles in der Welt haben „Hitlerjunge Salomon“ mit der Veranstaltung zu tun oder „Charlotte – Leben oder Theater“, ein Film über die Berliner Malerin Charlotte Salomon, die 1943 als 26jährige in Auschwitz ermordet wurde? Wo sind statt dessen „The Frisco Kid“ oder die Bette-Midler-Vehikel? Warum muß Herz Franks „Die Judengasse“, ein Film über Juden in Lettland, dabeisein? Weil „Jüdische Lebenswelten“ immer ein Kapitel Auschwitz enthalten müssen? Gerade die Filmreihe hätte mit Filmen wie „Homicide“, einem Thriller über einen jüdischen Cop, der plötzlich über eine Gruppe bewaffneter Zionisten stolpert, die Konzeption der Kulturtage unterstützen können. Zufällig auch die Auswahl von Filmen, die jüdische Emigranten nach 1945 in Deutschland drehten: „Die Ratten“ von Robert Siodmak, „Der Tiger von Eschnapur“ von Fritz Lang oder dessen „Indisches Grabmal“. Eine weitere Reihe zeigt Filme zum Thema „Komponisten in der Emigration“. mn

Filme im Arsenal:

„Die Judengasse“ von Herz Frank (13. und 14.11., 18 Uhr), „Juarez“ von William Dieterle (15.11., 20 Uhr), „Catherine the Great“ von Paul Czinner (17.11., 20 Uhr), „The Life and Times of Allen Ginsberg“ von Jerry Aronson (20.11., 20 Uhr), „Charlotte – Leben oder Theater“ von Richard Dindo (21. und 28.11., 11.30 Uhr), „Stalag 17“ von Billy Wilder (21.11., 20 Uhr), „Number Our Days“ und „In Her Own Time“ von Lynne Littman (22.11., 18 Uhr), „Address Unknown“ von William Cameron Menzies (23.11., 20 Uhr), „Sunset Boulevard“ von Billy Wilder (24.11., 20 Uhr), „Rebecca“ von Alfred Hitchcock (27. und 28.11., 22.30 Uhr), „King's Row“ von Sam Wood (29.11., 20 Uhr), „This Side of Paradise“, „Side/Walk/Shuttle“ und „Signal – Germany on Air“ von Ernie Gehr (28.11., 20 Uhr),

Dienstag, vom 15. bis 28. November an unterschiedlichen Tagen (Ernie Gehr am 28. November um 20 Uhr, „Number Our Days“ am 22. November um 18 Uhr), im Arsenal, Welserstraße 25, Tel.: 213 60 30, U-Bahn Wittenbergplatz

Weitere Filme in der Filmbühne am Steinplatz:

„Die Ratten“ von Robert Siodmak (20.11., 18.30 Uhr), „Der Tiger von Eschnapur“ und „Das indische Grabmal“ von Fritz Lang (21.11., 11 Uhr), „Vor Sonnenuntergang“ von Gottfried Reinhardt (21.11., 14.30 Uhr), „Hitlerjunge Salomon“ von Agnieszka Holland (21.11., 16.30 Uhr), „Der Rosengarten“ von Fons Rademakers (21.11., 18.30 Uhr).