Da geht die Nachbarschaft

Schwarze, Puertorikaner, Koreaner als Superhelden: In den USA laufen die Geschäfte mit multikulturellen Comics prächtig. Bei „Milestone Comics“ will man außerdem noch die weiße Hegemonie im Heldengenre brechen  ■ Von Tilman Baumgärtel

Die U-Bahn von Dakota City unterscheidet sich kaum von den Subways in den meisten amerikanischen Großstädten: Sie stinkt nach Urin, ihre Stationen sind vollgemüllt, in den Ecken schlafen Obdachlose, und wer gerne lebend nach Hause kommt, benutzt sie nach Einbruch der Dunkelheit besser nicht mehr.

Auch die Reporterin Rob Chaplik vom Dakota Chronicle wird von ihren Kollegen gewarnt, als sie die besonders heruntergekommene Bahn von Dakota zu dem Ghetto-Viertel Paris Island nehmen will: „Rob, ich habe nichts dagegen, meine Reporter in Krisengebiete zu schicken“, sagt ihr der Chefredakteur des Chronicle, „aber das ist Wahnsinn!“

Natürlich fährt Rob trotzdem, denn sie wittert die Geschichte ihres Lebens. Sie will den Gerüchten auf den Grund gehen, die seit einigen Monaten in der Stadt kursieren: In Paris Island soll es eine neue, extrem gefährliche Street Gang geben. Sie heißt Blood Syndicate, und ihr Revier soll schon halb Paris Island umfassen. Die Jugend-Gang ist angeblich so mächtig, daß die Polizei sie genauso fürchtet wie die Drogenhändler und die Mafia. Doch noch bevor sie dort ankommt, hält die Bahn mitten auf der Strecke. Ein muskulöser Gigant steht auf den Gleisen und schleppt die verängstigte Journalistin durch unterirdische Gänge zu einem Kellerraum, wo das neunköpfige Blood Syndicate schon auf sie wartet. Eine halbe Stunde später ist sie dabei, als die Gang ein Crack-Laboratorium räumt und niederbrennt ...

„Völlig multi- kulturelle Welt“

So beginnt „America eats its Young“ (Amerika frißt seine Jugend), die erste Folge der amerikanischen Comic-Serie „Blood Syndicate“, die im April dieses Jahres von dem New Yorker Verlag Milestone Media veröffentlicht wurde. Auf den ersten Blick sehen die Hefte nicht anders aus als die meisten Comics, die von Verlagen wie C.D. oder Marvel herausgebracht werden: Superhelden mit übermenschlichen Kräften und bizarren Kostümen kämpfen in futuristischen, postapokalyptischen Stadtlandschaften gegen Ungeheuer und Monster mit übermenschlichen Kräften und bizarren Kostümen. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man den Unterschied zu herkömmlichen Superhelden-Comcis: Alle Helden sind farbig, und das ist eine ziemlich sensationelle Unterwanderung von Rollenklischees in einem Medium der Mainstream-Unterhaltung. Denn in den US-amerikanischen Comics traten zwar schon immer Spinnenmänner, menschliche Fledermäuse und Pinguine auf, aber eben keine Farbigen. Selbst in den beiden Batman-Verfilmungen von Tim Burton war Gotham City, die Stadt des dunklen Ritters, eine Stadt ohne Schwarze. Wenn Schwarze im Territorium von Superman und Captain America überhaupt eine Rolle spielten, dann meist als Schläger, Mörder oder Dealer – als bad guys eben.

Gegen diese weiße Hegemonie wollen die Herausgeber bei Milestone ein anderes, wirklichkeitsnäheres Bild der USA setzen. Ihre Comics spielen in „einer völlig multikulturellen Welt, mit Schwarzen, Asiaten, Latinos, Frauen, einfach jedem“, wie Derek Dingle, einer der Milestone-Verleger, im Editoral zu einem Blood-Syndicate-Heft schreibt. „Wir wollen zeigen, daß jeder, wirklich jeder, ein Held sein kann.“

Der (afro-) amerikanische Traum

In seinem epochemachenden Roman „Invisible Man“ (1952) hat der schwarze Schriftsteller Ralph Ellison über die african-americans geschrieben, sie würden von der weißen Gesellschaft so gründlich übersehen, daß sie sich wie unsichtbar vorkämen: „Manchmal frage ich mich, ob ich nicht in Wirklichkeit nur ein Phantom bin. Oder ein Ungeheuer aus einem Alptraum, aus dem der Schläfer mit aller Kraft aufzuwachen versucht.“

Die Ungeheuer, die der Schlaf der weißen amerikanischen Gesellschaft hervorgebracht hat, sehen in Milestone-Comics so ähnlich aus wie die homeboys der Street-Gangs von Los Angeles. Die Mitglieder des Blood Syndicate haben die verschiedensten ethnic backgrounds: zwei puertoricans, zwei schwarze dominicans, zwei african-americans, einer von ihnen Moslem, eine Haitianerin und ein Koreaner. Doch sie sind keine eindeutig positiven Helden: Selbst als sie ein Crack-Haus stürmen, stopft sich die Haitianerin Flashback noch schnell die Taschen mit Drogen voll, um sie später auf der Straße zu verkaufen.

Icon, ein anderer Held aus dem Milestone-Stall, ist im bürgerlichen Leben der erfolgreiche Anwalt Augustus Freeman, der tagsüber unauffällig seiner Arbeit nachgeht; nachts aber sorgt er als Rächer der farbigen Enterbten, der Beschützer von Ghettowitwen und -waisen in Dakota City für law and order. Wie Superman kommt er aus dem Weltall. 1838 wurde er auf der Erde ausgesetzt und von einer schwarzen Sklavin in den Südstaaten aufgezogen. Anderthalb Jahrhunderte später erinnert nicht bloß der Name des unsterblichen Superhelden an die Unterdrückung der amerikanischen Schwarzen: Freeman ist typisch für Familiennamen, die sich die befreiten Sklaven nach dem Ende des Bürgerkrieges ausgesucht haben. Und in seinem Schreibtisch hebt Icon die Ketten seiner Ziehmutter auf.

Icon wird als Repräsentant der arrivierten schwarzen Oberschicht in den USA dargestellt, die durch das civil rights movement der fünfziger und sechziger Jahre geprägt wurde. Anders als die Teenager des Blood Syndicates, die nie an die Möglichkeit einer Integration geglaubt haben, träumt er den amerikanischen Traum von der Gleichheit für alle: „Ich habe die Sklaverei erlebt“, erzählt er während seines ersten Abenteuers, „ich habe die Jim-Crow-Gesetze erlebt, Apartheid, zwei Weltkriege, scheinbar endloses Leiden. Aber ich habe auch erlebt, daß Unrecht nur solange existieren kann, wie es niemanden gibt, der dagegen kämpft.“

Helden und Trickster

Sein weiblicher side-kick Rocket (die eine „Schriftstellerin wie Toni Morrison“ werden will) hat andere Erfahrungen gemacht. Icon lernt sie kennen, als sie unfreiwillig dabei ist, wie einige ihrer Freunde in Icons Villa einsteigen.

Als der Held die Einbrecher stellt, halten die ihn zunächst für den Butler, weil sie nicht glauben können, daß ein Schwarzer in einem Villenvorort ein Haus besitzt: „Kann schon sein, daß du hier dein Geld verdienen mußt, Brother“, sagt einer von ihnen und richtet seine Pistole auf Icons Brust, „aber du wirst dich wegen dem Kram von deinem weißen Boß wohl nicht erschießen lassen?“

Natürlich verteidigt Icon sein Eigentum, natürlich töten ihn die Schüsse nicht – er wirft die Gang superheldenhaft hinaus. Doch einige Tage später kommt Rocket zurück und überzeugt Icon, seine überirdischen Kräfte als schwarzer Robin Hood einzusetzen. Gleich bei ihrem ersten Abenteuer ist es allerdings sie, die Icon retten muß: Als er der Polizei helfen will, einen Kidnapper zu fangen, wird er erst mal selbst verhaftet. Die weiße Polizei will partout keinen african- american im Superhelden-Kostüm an ihrer Seite haben.

Die groteske Verhaftungs- Szene erinnert an das Unrecht, das der namenlose Held von Ralph Ellisons bereits erwähntem Roman „Invisible Man“ erleiden muß. Und auch sonst sind die Milestone- Comics tiefer in afroamerikanischen Traditionen verwurzelt, als der europäische Leser ahnen mag. So erinnert Icons außerirdische Herkunft an den Schöpfungsmythos der Black Muslims, die glauben, daß die schwarze Rasse aus dem All kam und früher die Welt beherrschte. In der Milestone-Serie „Hardware“ bekommt der Titelheld seine eigene literarische Herkunft in einem Traum erläutert: Eine Englisch-Professorin erklärt ihm, daß er eine typische „Trickster“-Figur sei. Der „Trickster“ ist eine aus der afrikanischen Tradition übernommene Sagengestalt, die – wie der schwarze Literaturwissenschaftler Skip Gates in seinem zur Zeit viel gelesenen Buch „The signifyin' monkey“ dargestellt hat – als Modell für viele Gestalten aus der schwarzamerikanischen Literatur gedient hat.

Demontage von Mythen

Das Aufkommen multikultureller Comics in den USA hat zwei Gründe: Erstens läuft das Geschäft mit Comics zur Zeit generell prächtig. Wie die New York Times schreibt, wurden in der ersten Hälfte dieses Jahres mehr Comics als je zuvor verkauft. Zweitens ist die kulturelle und mediale Repräsentation von Minderheiten in den achtziger Jahren immer vehementer eingeklagt worden – trotz des zunehmenden Auseinanderdriftens des schwarzen und weißen Amerikas.

Heute ist in amerikanischen Nachrichtensendungen mindestens einer der meist drei Moderatoren schwarz oder weiblich (am besten beides zusammen). Auch

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die „Bill Cosby Show“, in Deutschland als Ingegriff des Ami- Serien-Schwachsinns verschrien, gilt in den Vereinigten Staaten als wichtiger Durchbruch im Bereich der TV-Unterhaltung: Die sitcom über eine schwarze Mittelstandsfamilie mit normalen Mittelstandsproblemen war durchaus mit pädagogischer Absicht konzipiert worden: sie sollte Klischeevorstellungen über Afroamerikaner zurechtrücken.

Auch im amerikanischen Kino hat es seit dem Überraschungserfolg von „Boys In The Hood“ so viele schwarze Filme gegeben wie sonst nur in den siebziger Jahren, als blaxploitation movies wie „Shaft“ oder „Superfly“ ein paar Jahre lang die Kinos füllten. Neben den Filmen von Spike Lee hat vor allem Mario Van Peebles „Posse“ ganz gezielt weiße Kinomythen demontiert (in dem Film geht es um die in weißen Western meist verleugneten schwarzen Cowboys).

Am Ufer des Mainstream

In den USA, in denen heute ein nicht gerade kleiner Teil der schwarzen Bevölkerung fest davon überzeugt ist, daß die Regierung sie mit Drogen, Aids und Sichelzellenanämie gezielt ausrotten will, kommt bei jungen Comic-Lesern das rabiate Blood Syndicate natürlich besser an als die Cowboys aus dem 19. Jahrhundert. Daß die Milestone-Veröffentlichungen seit einem halben Jahr von den marktführenden D.C. Comics (die auch Superman und Batman unter die Leute bringen) vertrieben werden, fällt zusammen mit dem ungeahnten Erfolg, den derzeit Rapper wie Ice Cube oder Dr Dre trotz unflätiger Texte bei großen Plattenfirmen wie Sony oder Time Warner haben.

Unvermeidlich war daher, daß Milestone schon für einen Ausverkauf ans weiße System kritisiert wurde. Doch auch ohne Milestone haben andere Comic-Verlage die Zeichen der Zeit erkannt: In der Superhelden-Serie „Flash“ ist im vergangenen Monat ein schwuler Held namens Pied Piper auf den Markt gekommen. Jetzt bereitet D.C. neue Comic-Serien vor, die Superheldinnen gewidmet sind: Zu „Wonder Women“ und „She- Hulk“ gesellen sich demnächst „Barb Wire“, „Wild thing“ und „Xombie“.

Ob Icon, Static oder das Blood Syndicate zu popkulturellen Ikonen wie Superman werden, bleibt abzuwarten. Der New Yorker Medienwissenschaftler Terence Moran hat einmal geschrieben, daß der „Mann aus Stahl“ vor allem durch Radiohörspiele und Filme zum Klassiker geworden sei. Als hätten sie's gelesen, werben Metro Goldwyn Mayer in den letzten Ausgaben von „Blood Syndicate“ für den neuen Film von Robert Townsend („Hollywood Shuffle“). Townsend selbst spielt die Hauptrolle: den schwarzen Superhelden Meteorman.

Die amerikanischen Ausgaben kosten zwischen 1.50 und 2.00 Dollar und sind auch schon in deutschen Comic-Läden gesichtet worden.