Der lange Weg der KBW

■ Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg / „Ein Porträt aus Büchern“ in der Staatsbibliothek Von Hajo Schiff

Vor fast sechzig Jahren, am 12. Dezember 1933, verließen zwei Frachter der Hamburg-Amerika-Linie, beladen mit 531 Kisten, das im Januar so gründlich veränderte Deutsche Reich in Richtung London. An Bord waren 60.000 Bücher der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) aus der Hamburger Heilwigstraße. Anläßlich dieses Datums und genau hundert Jahre nach der ersten Veröffentlichung des Kulturhistorikers Aby Warburg, zeigt die Staatsbibliothek Ein Porträt aus Büchern, einen erstmaligen Überblick der Schriftenfülle, die von Warburg seit 1921 in Hamburg und in seinem Geist seit 1934 in London herausgegeben wurde.

Dem Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg war es 1992 gelungen, in einem Antiquariat im amerikanischen Boston einen vollständigen Bestand aller von der KBW und vom Warburg Institute herausgegebenen Schriften zu erwerben. Damit ist eine Vollständigkeit erreicht, die außer in London sonst nirgends anzutreffen ist. Doch der Erwerb ist nicht zur weiteren Vermehrung der inzwischen aufgrund einer zu Warburgs Zeiten kaum vorstellbaren Publikationsflut auf 70.000 Bände angewachsenen Seminarbibliothek gedacht, sondern als ein Baustein für die Wiedererweckung des Geistes einer der wissenschaftlich bedeutendsten Einrichtungen, die je in Hamburg Platz hatten, durch die kürzlich gegründete Warburg Stiftung.

Die Kunst als Gedächtnis der Menschheit

Das besondere an Werk und Sammeltätigkeit Aby Warburgs ist der jede fachbezogene Engstirnigkeit überwindende Blickpunkt des Forschers. Er erklärt die Malerei der italienischen Renaissance nicht mehr mit dem Genie der Künstler, sondern als Ausdruck eines universellen Flusses von Bildgedanken, deren zentraler Angelpunkt die mittelmeerische Antike war.

Doch dieser für damalige Verhältnisse schon weitgehende Gedanke war noch zu eng gefaßt: Für die Entschlüsselung der Frührenaissance-Fresken im Palazzo Schifanoia in Ferrara greift Warburg auf indisch-persische Astrologie und deren vielfältig gebrochene Ideen-Wanderung aus dem Orient nach Oberitalien zurück. Dieser Vortrag von 1912 gilt als Geburtsstunde der Ikonologie. Der Kunsthistoriker hatte auch Psychologie studiert und betrieb 1896 bei den Hopi-Indianern ethnographische Feldforschung.

Nach seiner teilweisen Einweihung in das Schlangenritual bestärkte sich sein universaler Ansatz: „Es ist ein altes Buch zu blättern, Athen, Oraibi, alles Vettern“. Kunst ist das große Bildgedächtnis der Menschheit, mit immer wiederkehrenden „Pathosformeln“ und Darstellungstypen. Manets „Frühstück im Grünen“ ist genau so aufgebaut, wie ein Stich von Raffael, Werbefiguren reproduzieren Gesten antiker Götter. Das ist kein „postmodernes“ Zitieren, sondern ein Universalschatz der Menschheit. Dieser kollektiven Erinnerung, der Mnemosyne, der Mutter aller Musen, war - mittels eines vom Hamburger Stadtbaumeister Fritz Schumacher entworfenen griechischen Schriftzugs über dem Eingang - auch die Hamburger Bibliothek geweiht.

Der Denkraum implodiert in psychotischer Nacht

Anders als üblich, nämlich thematisch nach dem „Gesetz der guten Nachbarschaft“ strukturiert und mit Farbkodierungen vernetzt, bildete sie einen ganz eigenständigen Denkapparat, einen gemäß Selbsteinschätzung „phänomenalen Scheinwerfer“, mit dem die Geistesgeschichte ausgeleuchtet werden konnte. Aby Warburg war auch derjenige, der in seinen „Bildatlas“ auf großen, schwarzgrundigen Tafeln das System Pinnwand als wissenschaftliches Assoziationsmittel einführte. Die Tafeln sind fotografisch dokumentiert und bilden mit der Bildersammlung zu Sternglaube und Sternkunde, die im Hamburger Planetarium „vergessen“ wurde, noch heute einen visuellen Einstieg in die Denkmethode.

Trotz mancher Ähnlichkeiten zur Gedankenwelt von Siegmund Freud und dem Symboldenken C.G. Jungs hatte Warburg keinerlei Kontakt zur Wiener Psychoanalytischen Schule, auch nicht als er im Kreuzlinger Sanatorium des Freud-Schülers Ludwig Binswangers weilte. Denn dem Forscher war 1918 sein riesig weit gespannter Denkraum implodiert und warf ihn für fünf Jahre in psychotische Nacht. 1923 hält er zum Beweis seiner wiedergewonnenen Ordnungskompetenz in der Anstalt den Vortrag zum Schlangenritual der Hopi-Indianer, in dem er die 27 Jahre alten Erlebnisse aufarbeitet.

Das Nachleben der Antike, Thema seit Beginn seiner Arbeit, wird nun erweitert um den Versuch, das Erregung und Angst verkörpernde Heidentum in der europäischen Gesamtkultur zu erfassen. Die 1926 neugebaute, mit Bücheraufzug, Rohrpostsystem, Diaskop und versenkbarer Leinwand ausgestattete Hamburger Bibliothek wird zum zentralen Denkraum und Ord- nungsinstrument.

Der Lesesaal ist elliptisch, damit das Denken um mehr als einen Angelpunkt kreisen kann, und das Oberlicht ist geformt als eine zwölffach in Blütenblätter gebrochene Rosette. In diesem Zeichen nimmt jetzt die Aby-Warburg-Stiftung die 1933 abgebrochene Tradition wieder auf.