Pläne für die Stadt im Embryonalzustand

■ Das Symposium "Zukunft für Marzahn" sieht im Rückbau der großen Magistralien und in der Planung neuer Arbeitsorte einen Weg aus der "geerbten Utopie" zum Stadtviertel

Kurzatmige Planungen zur Sanierung der östlichen Berliner Plattengewitter zeichnen sich oftmals durch eine gewisse Hilflosigkeit aus. Marzahn beispielsweise ist schlichtweg zu gewaltig, als daß Hofbegrünungen oder Wohnumfeldverbesserungen wesentliche Veränderungen in die monofunktionale Siedlung bringen könnten. Derzeit fördert das Land Berlin mit lächerlich wenigen 40 Millionen Mark für fünf Jahre die Modernisierung der Großsiedlung: ein Tropfen auf den heißen Stein, wie man auch in der Bauverwaltung weiß. Der Charakter Marzahns mit 150.000 Bewohnern verbessert sich dadurch langfristig wenig.

Auch bauliche Implantate glitzernder Einkaufswelten potenter Investoren vermögen keine Urbanität herzustellen. Es mangelt an „Stadt“ und ihren Funktionen. „Marzahn“, sagte der Berliner Architekt Klaus Theo Brenner gestern auf dem Symposion „Ideenwerkstatt: Zukunft von Großsiedlungen – Zukunft von Marzahn“, „stellt sich für mich als ein Konglomerat von Gebäuden dar, die in den freien Raum hineingebaut wurden, ohne daß eine räumliche Ordnung sinnfällig hervortritt. Die Siedlungsstruktur ist äußerlich wie taub“. Lebendige Orte, Orte der Arbeit seien nicht wahrnehmbar.

Angesichts der sisyphosgleichen Probleme, die vor dem Umbau Marzahns schrecken, ergehen sich Überlegungen für eine „andere Welt“ oft in Traumtänzerei. Nicht so auf dem zweitägigen Symposion von „Habit Forum Berlin“, das im Auftrag der Senatsbauverwaltung veranstaltet und vom Bundesministerium für Raumordnung und Städteplanung gefördert wurde. Die städtebaulichen Lösungsansätze zur Überwindung der arbeitsräumlichen Defizite in Marzahn, die von drei Teams vorgelegt wurden, suchten praktikable und langfristige Strategien zur „zweiten Stadtwerdung“ der Plattensiedlung aus den vorhandenen Substanzen. Aus der „geerbten Utopie“ wird eine Stadt am Rand der Metropole, wie sich ein Teilnehmer ausdrückte.

Marzahn, betonte der Dresdner Hochschullehrer Wolf R. Eisentraut, muß sich von der vorstädtischen Siedlung zur einem integrierten Stadtteil Berlins wandeln. „Das Ziel des Konzepts ist weniger ein abstraktes Leitmodell als vielmehr die Weiterentwicklung der vorhandenen Strukturen, die ich gleichsam als Rohbau ansehe“, sagte Eisentraut. Die Gliederung Marzahns in drei große Abschnitte sowie die „Leerräume“ spiegeln den Zerfall der Siedlung am deutlichsten. Die Trennung der Quartiere und die Strategien, so Eisentraut, die auf die kleinteilige Zentrenentwicklung „mit ein paar Einkaufsmärkten“ setzten, verstärken nur mehr diese „Insellagen“. Statt dessen schlug der Dresdner Hochschullehrer die Planung eines langgezogenen städtischen Schwerpunktes an der Landsberger Allee bis nach Alt-Marzahn und Marzahn-Nord vor, die als „Stadtstraße“ die Unmaßstäblichkeit der „toten Monster-Achsen“ überwindet und entlang dieser Arbeitsstandorte konzentriere.

Die Gedanken Eisentrauts, leere Flächen mit neuen Baumassen zu füllen und Straßenräume für Arbeitsplatzpotentiale zurückzubauen, wurden von Thilo Hilpert, Städtebauer aus Wiesbaden, ausgeweitet. Hilpert: „Marzahn ist derzeit ein Gigant von Baumassen mit einer Stadtstruktur im Embryonalzustand. Um eine zukünftige Stadtstruktur zu sichern, muß deshalb ein vielfältiges Netz von Knotenpunkten und multifunktionalen Feldern entstehen, das aus den Potentialen des Ortes erwächst.“ – „Es sind die großen Entwicklungsachsen wie das Feld jenseits der S-Bahn-Trasse, die Landsberger Allee oder die Allee der Kosmonauten, die an den gewaltigen Magistralen eine kommunale Landreserve bereitstellen für Entwicklungen eines neuen Typs von Arbeitsplätzen.“ Die zum Teil über 120 Meter breiten Straßen – die Länge eines Fußballfeldes – können sich durch Randbebauungen oder eine neue Mittelstreifenbebauung mit Gewerbe und Handel zu großstädtischen und urbanen Linien wandeln.

Das radikalste Konzept, nämlich die Entwicklung einer „städtebaulichen Heterotopie“ (ein bauliches Gegenbild in dem bestehenden Siedlungsgewebe, d.V.) präsentierte Klaus-Theo Brenner. Nach seiner Auffassung soll an der westlichen Kante Marzahns, am Wuhletal, ein neues Siedlungsband aus Blöcken gebaut werden, das auf die Landschaft reagiert und diese mit den Gärten der Neubauten verknüpft. „Die gegenwärtige Siedlung läßt zu ihren Rändern keinerlei Ansatz erkennen, das sie mit dem Umfeld signifikant verknüpfen würde“, sagte Brenner. Die neue Parzellenstruktur für Wohnungen, Arbeitsorte und Freizeiteinrichtungen ist nicht nur ein Gegenbild der bestehenden Plattenordnung, sie verleiht dem Ort eine „Fassung“ sowie bauliche und soziale Orientierung.

Durch den Bruch mit der bestehenden Architektursprache und der „architektonischen Akupunktur“ rückt Brenners Idee auf den ersten Blick vielleicht am weitesten von der Wirklichkeit und dem Bestand Marzahns ab. Zugleich erscheint sein Modell einer neuen baulichen Mischungs-Struktur aber am faßbarsten, bietet es doch Chancen neuer sozialer Integration sowie Räume für innovative Arbeits- und Eigentumsformen. Die baulichen und sozialen Perspektiven für Marzahn brauchen ein finanzierbares Leitbild, mahnte Hans Stimmann. Klaus Theo Brenners Idee für Wohn- und Arbeitsprojekte selbstverwalteter Träger – ein fast schon romantisches Bild aus den Tagen Kreuzberger Mischung – böten dafür ein bezahlbares Projekt mit Sozialbindung. Rolf Lautenschläger