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Alfabet oder Alphabet?

■ Immer mehr BerlinerInnen, die nicht lesen und schreiben können, gehen aus ihrer Isolation heraus und belegen Kurse / Viele haben Volks- oder Hauptschule besucht

Der seit vielen Jahren in Berlin lebende Nordafrikaner Abdullah K. (Name geändert) ist ein Sprachtalent. Fünf Sprachen spricht er fließend. Aber schreiben kann er nicht eine. Die arabische Schrift hat er vergessen, lateinische Schriftzüge kennt er nicht. Und trotzdem hat er einen Führerschein. Mit seinem „photographischen Gedächtnis“ hat er sich das Aussehen langer Begriffe aus dem Straßenverkehr eingeprägt, bis er Schilder wie Einbahnstraße „lesen“ konnte.

Tausende BerlinerInnen mogeln sich mit Ausreden wie der vergessenen Lesebrille, der verbundenen Schreibhand durch den Buchstaben- und Zahlendschungel. Oder sie geben es offen zu und bitten um Hilfe. Statistiken über Analphabeten gibt es nicht. Der Verein „Lesen und Schreiben e.V.“ geht von rund 25.000 jugendlichen und erwachsenen BerlinerInnen aus, der Verein „Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe e.V.“ (AOB) von 60.000. Der Begriff „Analphabet“ ist nicht klar definiert. Die Unesco spricht von „funktionalem Analphabetismus“, wenn die Betroffenen nicht „gleichberechtigt an den gesellschaftlichen Aktivitäten des Kulturkreises teilnehmen“ können. Diese Personen haben zwar meist geringe Buchstabenkenntnisse und können beispielsweise ihren Namen richtig schreiben, aber sie sind nicht in der Lage, Inhalte und Zusammenhänge eines geschriebenen Textes zu verstehen.

Die TeilnehmerInnen von Lese- und-Schreib-Kursen, die meistens eine Volks- bzw. Grund-, Haupt- oder Sonderschule besucht haben, werden immer jünger. Und Statistiken der Schulsenatsverwaltung belegen, daß die Zahlen der Analphabeten, die sich aus ihrer Isolation herauswagen, steigen. 1987 haben 900 BerlinerInnen an 135 Lese-und-Schreib-Kursen teilgenommen, im letzten Jahr waren es fast 1.300. Der Vergleich Frühjahrssemester 1992 und 93 zeigt sogar einen Zuwachs von 39 Prozent.

Die Ursachen des Analphabetismus sind vielfältig, so Margret Müller vom AOB. Es gibt nie nur eine Ursache. Ein „Geflecht zwischen Familie und Schule“ führt oft zu einer doppelten Benachteiligung: Einerseits können familiäre Probleme bewirken, daß auch regelmäßiger Schulbesuch nicht genügt, um ausreichend lesen und schreiben zu lernen, und andererseits „greift das die Schule nicht auf“. Auch wenn die Diplompädagogin Verständnis für das „Dilemma der Lehrer“ hat, „die mit spärlicher psychologischer Beratung auskommen müssen“, reicht es ihrer Meinung nach nicht aus, Lernschwächen allein durch Nachhilfe aufzugreifen. Denn im Förderunterricht werde in der Regel die gleiche Lernmethode wie im Schulunterricht verwendet. Margret Müller arbeitet seit fünf Jahren als Kursleiterin beim AOB, der sich an Personen richtet, bei denen mangelnde Lese- und Schreibkenntnisse zu Versagensängsten, Lernhemmungen oder auch schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigungen geführt haben. „Oftmals können die Menschen viel“, so Müller, „aus Unsicherheit und Scham wenden sie das aber nicht an und verlernen das meiste.“ Die Gründe der Analphabeten, aus ihrer Isolation herauszugehen, sind verschieden: Angst, die Arbeit zu verlieren, Einschulung der Kinder, Trennung in Beziehungen, in denen der Partner das Lesen und Schreiben übernommen hat.

Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit stehen beim Verein „Lesen und Schreiben e.V.“ im Mittelpunkt. Er richtet sich an deutschsprachige Analphabeten, und neben Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen werden Lerngruppen für Führerscheintheorie, Behördengänge, Wohnungs- und Arbeitssuche angeboten. Die Betroffenen benutzen die dem Duden widersprechende Schreibweise „An-Alfabeten“, um zu signalisieren, daß sie das „Alfabet“ zwar nicht ganz beherrschen, aber dabei sind, lesen und schreiben zu lernen.

Neu ist die Problematik in der ehemaligen DDR. Im sozialistischen Schulsystem durfte es keine Versager geben, und die typischen Ursachen wie familiäre Probleme oder vorzeitiges Abgehen von der Schule wurden als nicht existent geleugnet. Die Folgen waren nicht so gravierend, weil auch Schwächere einen Arbeitsplatz bekamen. Mittlerweile bieten drei Ostberliner Volkshochschulen Kurse für Analphabeten an.

Ansprechpartner siehe Kasten S. 36

wahn

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