Und die Füße atmen mit

■ Atem kann Quelle bewußter Erfahrung sein – wenn der Muskelpanzer bricht

Am Anfang ist die Skepsis. „Erfahrbarer Atem“ steht im Kurs- Programm. Kann eine Atemtherapie – wie es in der Beschreibung heißt – dem Menschen von innen heraus Kräfte zufließen lassen, die ihm helfen, den Alltag besser zu meistern? Gewißheit solle ein Wochenend-Kurs bringen. Ein Atempädagoge hilft uns Interessenten dabei, ihren Atem zu erfahren.

Atmen und Leben hängen eng zusammen. Unser Leben beginnt mit dem ersten Atemzug und endet mit dem letzten. Ähnlich wie Herz und Kreislauf stellt der Atem eine der wichtigsten vegetativen Funktionen des Menschen dar. Aber nicht die Frage, wie viele Atemzüge jeder von uns im Leben tut, ist entscheidend, sondern deren Qualität. So erfahren wir es von dem Atempädagogen.

Wer denkt schon bewußt an seinen Atem? Manchmal spüre ich ihn bei körperlicher Anstrengung. Das Herz rast, ich keuche, schnappe nach Luft. Bei Freude oder großem Glück habe ich das Gefühl, frei und leicht zu atmen. Es gibt Momente, wo einem Platzangst in einer dichtgedrängten Menge derart zusetzt, daß man glaubt, ersticken zu müssen. Viele Menschen, so der Atemtherapeut, atmen einfach zu flach. Dadurch kann sich die mechanische Druckwelle, die durch Bewegung des Zwerchfells erzeugt wird, nicht ausbreiten. Organe und Muskeln werden nicht genügend mit Sauerstoff versorgt. Verspannungen und Verstimmungen können die Folge sein. Atmen soll aber im Idealfall bis in den Rücken, in die Arme, die Beine spürbar sein, so die Atem- Professorin Ilse Middendorf. Sie hat die Methode des „erfahrbaren Atems“ vor etwa 60 Jahren entwickelt und gibt sie seit 1965 an ihrem Institut in Schöneberg weiter. Der Schlüsselsatz ihrer Methode lautet: „Wir lassen den Atem kommen, wir lassen ihn gehen und warten, bis er von selbst wiederkommt.“

Diese Formel begleitet auch jede unserer Bewegungs- und Haltungsübungen. Im Dehnen und Gähnen, im Sitzen, Liegen oder Stehen, beim Schwingen der Arme, beim Beugen der Beine verändert sich unser Atemzug von selbst. Wir versuchen, in uns hineinzuhorchen und den Atemkräften nachzuspüren. Anschließend sprechen wir über unsere Empfindungen. Von Übung zu Übung tasten wir uns weiter im Körper vor. Durch sanften Druck oder Massage bestimmter Körperteile werden die Atemkräfte besonders angesprochen. Nach einer solchen Übung spüre ich auf einmal, wie der Atem warm bis in meine Füße strömt. Ein tolles Gefühl. Doch nicht immer gelingt es mir, dem Atem nachzuspüren. Mein Rücken beispielsweise bleibt trotz fleißigen Übens ein blinder Fleck der eigenen Empfindung. Ich versuche, mich besonders zu konzentrieren, merke aber, daß ich den Atem nicht willentlich herholen und in den Rücken schicken kann. Ich muß lernen, den Atem fließen zu lassen. Dazu gilt es, die Mitte zu finden zwischen Spannung und Entspannung. Nur gelöste Spannung macht das erfahrbare Atmen möglich.

Auf alle Fälle lerne ich bei all diesen Übungen meinen Körper besser kennen. Schon nach den wenigen Stunden fühle ich mich leicht und gut, gehe entspannt nach Hause. Ich habe das Gefühl, tiefer zu atmen, ohne ständig daran zu denken. Von mir nicht bemerkt, wohl aber vom Atempädagogen: Meine Haltung hat sich verändert. Der Körper ist locker aufgerichtet, der Kopf erhoben.

Mehr war wohl in punkto „erfahrbarer Atem“ für mich und meinen Körper in diesen zwei Tagen nicht zu erspüren? Oder doch? Zumindest kann ich mir jetzt vorstellen: Wenn ich mich weiter auf die Atemtherapie einlasse, finde ich zu mehr Ruhe und Gelassenheit und somit zu mehr Wohlbefinden. Die Atemübungen wirken nämlich auf drei Ebenen. Sie verhelfen dem Lungengewebe zur besseren Entfaltung, beeinflussen die biologische Atemsteuerung und können Muskelpanzer auflösen. Sie helfen, das eigene Körperschema neu zu erspüren und führen damit zu einem neuen Umgang mit sich selbst. So die Theorie. Doch bis man dort ankommt, gilt es, noch einige Übungsstunden zu absolvieren und mehr Kenntnisse und Erfahrungen zu sammeln. Das Ziel der Therapie: „Rechtes und freies Atmen umschließt Körper, Seele und Geist, läßt sie durchlässig werden, so daß innerliche Prozesse frei fließen können“, ist zwar noch in weiter Ferne, aber den Atem als Quelle bewußter Erfahrung – das habe ich schon erlebt.

An der Atemtherapie nach Middendorf kann jeder ohne Alterseinschränkung teilnehmen. Die Übungen sind einfach, erfordern weder besondere körperliche Voraussetzungen noch größere materielle Aufwendungen. Nur bequeme Kleidung und dicke Wollsocken sind mitzubringen und die Bereitschaft, sich auf innere Prozesse einzulassen. Da die Atemtherapie einen festen Platz in der Naturheilkunde hat, übernehmen die Krankenkassen auch einen Teil der Kurskosten.

Bei Untersuchungen der Stiftung Warentest zu klassischen Therapieverfahren der „anderen Medizin“ wird die Atemtherapie besonders empfohlen, um „Atmungsorgane und -muskulatur zu kräftigen, als begleitende Behandlung von Atemweg- und psychosomatischen Erkrankungen und zur Vorbeugung und Rehabilitation von Fehlatmung und Fehlhaltung“. Sie wird als risikoarm für den Patienten eingeschätzt. Allerdings entscheidet über den Erfolg nicht so sehr eine bestimmte Technik, sondern die Fähigkeit des Therapeuten, sich dem Patienten zuzuwenden. Maria Hirschfelder