Die Pillen machen's nicht

■ Alternative Heilverfahren versuchen den Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen / Starker Zulauf von Frauen

Bei Streß, Migräne oder Allergien greift die breite Mehrheit in den Erste-Hilfe-Schrank: Pillen sollen den Schmerz lindern. Dabei wirken sich Medikamente lediglich auf Symptome aus, die Krankheitsursachen werden oft genug nicht beseitigt. Doch die Patienten wollen nicht mehr wahllos bunte Pillen schlucken. Das Vertrauen zur Schulmedizin schwindet rapide. „Viele Kranke brauchen das Gefühl, sie können selbst etwas für sich tun“, weiß Renate Rhein aus langjähriger Erfahrung als Leiterin der Gesundheitsberatung für Erwachsene in Charlottenburg. Der „mündige Patient“ sei heute gefragt, dem die Verantwortung für seine Gesundheit selbst in die Hände gelegt werde.

Diesen Ansatz verfolgen die sogenannten alternativen Heilmethoden: Der Menschen ist nicht reparaturbedürftige Maschine, sondern soll für die Signale seines Körpers sensibel werden. Volle Kurse in Yoga, autogenem Training oder Tai Chi Chuan beweisen das stark gewachsene Interesse an dieser Heilkunst. Die Volkshochschulen bieten der alternativen Medizin ein immer größer werdendes Forum: Jährlich besuchen 1,4 Millionen TeilnehmerInnen die Praxis- Kurse. „Wir wollen den muffigen Geruch aus dem Gesundheitsbereich vertreiben“, sagt Sabine Schirm von der Volkshochschule Schöneberg. Als Organisatorin der „Gesundheitstage“, bei denen von Mittwoch bis Samstag ein Querschnitt des Angebots an alternativen Heilverfahren aufgezeigt wird, will sie die Menschen mit den Kursen der 23 Berliner Volkshochschulen bekanntmachen.

„Besonders gefragt sind alle Kurse, in dem der Körper nicht mechanisch begriffen wird“, erläutert Schirm die Neigungen der Besucher. Besonders im Trend liegen deshalb chinesische Heilmethoden. „In der chinesischen Vorstellung ist der Mensch von Energien durchströmt“, erklärt Christoph Millington, Leiter einer Shiatso- Schule. Erstes Anzeichen einer Krankheit sei, wenn Energieströme unterbrochen seien oder stagnierten. Die Folge davon sind beispielsweise Schmerzen im Bewegungsapparat. Anders als in der Schulmedizin beginnt die Behandlung daher schon sehr viel eher. Alternative Heilverfahren warten nicht ab, bis es zu organischen Veränderungen gekommen ist: Sie greifen präventiv ein. „Eine Krankheit ist wie eine Wüste. Die entsteht auch nicht von heute auf morgen, sondern durch viele Verwüstungen zuvor“, illustriert Shiatso-Therapeut Millington.

Die Chinesen unterscheiden zwölf Hauptenergien, benannt nach den inneren Organen des Menschen. „Jede Energie hat ihre Entsprechung auf körperlicher, geistiger und emotionaler Ebene. So ist die Blasenenergie beispielsweise für Ausdauer, Mut oder Sexualkraft zuständig. Ihre Schwächung aber führt zu Angstgefühlen“, erklärt der Heilpraktiker. Behandlung bedeutet nach dieser Vorstellung Stärkung von Energie. Dies könne zum Beispiel durch Akupunktur oder Akupressur geschehen. Die Energien laufen in zwölf Meridianen durch den Körper, die punktuell an die Oberfläche kommen. Von diesen Akupunkturpunkten besitze der Mensch 360. Das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele in dieser Vorstellung sorgt sicher für die momentane Beliebtheit dieser fast 4.000 Jahre alten Heilkunst.

Ihre AnhängerInnen sind überwiegend Frauen, in den Volkshochschulkursen beträgt der Anteil bis zu 80 Prozent. „Männer besuchen, wenn überhaupt, nur Kurse, in denen ihnen eine bestimmte Technik vermittelt wird, beispielsweise Gymnastik bei Rückenproblemen“, urteilt Sabine Schirm. Frauen sind offener. Sie stellen bestimmte Dinge eher in Frage und sind auch bereit, ihre Lebensführung zu überdenken. Dazu gehört auch, sich mit anderen Teilnehmern auszutauschen. Konkurrenzdenken hat in solchen Kursen keinen Platz. „Die TeilnehmerInnen kommen zu uns, weil sie Spaß haben“, betont Kristin Günther von der Volkshochschule Kreuzberg.

Neben dem Spaß erkennen die Krankenkassen auch verstärkt den Nutzen alternativer Heilmethoden an. Für eine Vielzahl von Kursen werden bis zu 50 Prozent der Kosten übernommen. Nur die AOK verweist auf ihr eigenes Programm und „arbeitet leider nicht mit den ansässigen Volkshochschulen zusammen“, bedauert Sabine Schirm. Die Volkshochschulen haben besonders im Ostteil der Stadt noch viel aufzuholen. Nur zehn Prozent aller Veranstaltungen werden bisher dort angeboten. Doch Raumnot erschwert den Ausbau des Programmes.

Trotz des Zulaufs der letzten Zeit bleiben noch genug Skeptiker, die lieber warten, bis sie richtig krank sind. Für Renate Rhein kein Grund zur Resignation: „Man muß an einer Stelle anfangen. Ein Programm für alle habe ich mir abgeschminkt.“ Hella Kloss