■ Führer der „Weißen Bruderschaft“ verhaftet – droht Massenselbstmord?
: Religiöser Wahnsinn in Osteuropa

Warschau/Kiew (taz)– Nach etwa zehntägigen Auseinandersetzungen konnten in der Nacht vom vergangenen Mittwoch auf Donnerstag die Führer der Sekte „Weiße Bruderschaft“, Jurij Kriwonogow und seine Frau Maria Zwygun, in Kiew verhaftet werden. Auslöser der Unruhen war die Ankündigung Zwyguns, sich am Donnerstag vor der Kathedrale der heiligen Sophia in Kiew kreuzigen zu lassen.

Die ukrainischen Behörden dürften inzwischen heftig bedauern, daß sie Jurij Kriwonogow 1990 nicht die Eröffnung einer „Schule für Naturheilkunde“ erlaubten. Kriwonogow gründete nämlich statt dessen die Sekte „Große Weiße Bruderschaft“, und die hält Behörden und Polizei seither mehr in Atem, als die Schule es je gekonnt hätte. Kriwonogow hypnotisierte seine Jünger, rief sie zu Tausenden nach Kiew, verkündete das Ende der Welt und forderte zu kollektiven Selbstmorden auf, um die Sünden der Welt zu sühnen. Die Behörden appellierten zuletzt an die Bevölkerung mit Bibelzitaten: „Hütet Euch vor falschen Propheten, denn sie sind Wölfe, die im Schafspelz zu Euch kommen.“

Schließlich lud Walentin Nedryhajlo, seines Zeichens stellvertretender Innenminister der Ukraine, die Kiewer Pressevertreter zu sich und eröffnete ihnen, die „Mutter der Erde und Jungfrau Christus“, mit bürgerlichem Namen Maria Zwygun, habe den 1. November zum letzten Feiertag der „Großen Weißen Bruderschaft“ erklärt. Danach folge nur noch das Ende der Welt – exakt am 24. November. Sie versprach ihren Anhängern, daß sie, sofern sie sich ihrem Suizid anschlössen, vor Beginn der Apokalypse in den Himmel kämen.

Die Pressekonferenz Nedryhajlos fand am 2. November statt, am Tag zuvor hatte die Kiewer Polizei insgesamt 500 Anhänger der Sekte hinter Gitter gebracht, die alle außer ihrem Alter (siebenundsiebzigtausend Jahre) keinerlei Angaben machten und sofort in Hungerstreik traten. Sie waren aus Rußland, Usbekistan, der ganzen Ukraine, Moldowa und Weißrußland angereist. Insgesamt hatte die Polizei vier Tonnen religöser Propagandabroschüren bei ihnen beschlagnahmt. Viele der Festgenommenen machten einen abwesenden und entrückten Eindruck.

Der letzte Feiertag der Weißen Brüder ist der jüngste Höhepunkt in der mehrjährigen Geschichte einer Sekte, die in der Ukraine langsam zu einer Massenbewegung wurde. Schon das Jahr über kamen aus verschiedenen Landesteilen Hilferufe der griechisch-katholischen Kirche, die sich über das aggressive Verhalten der Weißen Brüder beklagte. Schließlich fanden die Behörden heraus, daß die Bewegung auf mehrere zehntausend Anhänger angewachsen war, allein in Kiew sind es inzwischen 2.200, davon 200 Kinder. An ihrer Spitze steht der von Interpol gesuchte Jurij Kriwonogow, dem starke Persönlichkeitsstörungen, unter anderem Sexbesessenheit, nachgesagt werden. Nach Ansicht der Behörden hat Kriwonogow die frühere Komsolfunktionärin Maria Zwygun per Hypnose in seine Gewalt gebracht. Sie verschwand bereits im Sommer 1990 aus ihrem Haus und ließ dabei ihren dreizehnjährigen Sohn und ihre gesamte Habe zurück. Nach Angaben des Innenministeriums leidet Zwygun an Schizophrenie und steht in psychischer Abhängigkeit von ihrem Mann.

Nach Ansicht des Kiewer Religionswissenschaftlers Petro Kosucha handelt es sich bei den Weltuntergangsvisionen nicht um eine Religion, sondern um „ein Gemisch aus Hare-Krishna-, christlichen und altägyptischen Weisheiten“. Nach Ansicht des ukrainischen orthodoxen Patriarchen Filaret handelt es sich dagegen weniger um Weisheiten, denn um „antichristliche Torheiten“. Das allein wäre noch kein Grund zur Beunruhigung, gäbe es da nicht einen Präzendenzfall, was die Selbstmordabsichten der Weißen Brüder angeht: Während eines Kosakenaufmarsches auf dem Kiewer Sophienplatz übergoß sich einer der Anwesenden plötzlich mit Benzin und zündete sich selbst an. In der Tasche des Selbstmörders fand die Polizei später Broschüren der „Großen Weißen Bruderschaft“. Kein Wunder, daß seither bei den Behörden die Alarmglocken schrillten, sofern irgendwo eine Demonstration der Weißen Brüder anstand. Trotz der Festnahme der Sektenoberhäupter blickt man dem 24. November mit Bangen entgegen.

Für die Tageszeitung Iswestija ist der Erfolg der Sekte auf die Armut in der Ukraine zurückzuführen. Vizeminister Nedryhajlo ist damit zwar nicht einverstanden, doch haben Weiße Brüder, Hare Krishna und evangelische Wanderprediger aus den USA in letzter Zeit in Polen und der früheren Sowjetunion enormen Anhang. Zuletzt stürmte die polnische Polizei die „Himmelssiedlung“ in der Nähe von Lublin, wo die Sekte eines selbsternannten Wunderheilers zahlreiche Minderjährige gefangengehalten hatte. In Polen sind zur Zeit 75 nichtkirchliche Glaubensgemeinschaften registriert. Einen Antrag der in Deutschland umstrittenen Scientology-Kirche wurde in Breslau aus formalen Gründen abgelehnt. Aktiv ist dagegen die „Gesellschaft für Krishna-Bewußtsein“ mit Sitz in Gdyingen, die in Warschau regelmäßig Treffen und Vorträge abhält, unter anderem zusammen mit der angesehenen „Polnischen Philosophischen Gesellschaft“. In der Ukraine und Weißrußland dagegen kaufen evangelische Sektenprediger aus den USA in letzter Zeit häufig Werbezeit im staatlichen Fernsehen, um zu Massenveranstaltungen aufzurufen. Während Rußland inzwischen ein Gesetz verabschiedet hat, das eine Zulassungspflicht für solche Organisationen vorsieht und so die eingesessene orthodoxe Kirche schützen soll, fehlen solche Regelungen in der Ukraine und Weißrußland noch. Mit besonderer Unruhe verfolgen daher die dortigen Kirchen den sektiererischen Drang nach Osten. Die Sektenexpansion ist häufig so gut finanziell und organisatorisch abgesichert, daß die traditionellen Kirchen dem wenig entgegenzusetzen haben. Der weißrussische Exarch Filaret: „Die haben Dollar, wir nur Rubel.“ Auch die Öffentlichkeit ist auf die Ostexpansion der Sekten nicht vorbereitet: Erst nachdem zahlreiche Kinder verschwanden, bildete sich in Warschau eine informelle Selbsthilfegruppe verzweifelter Eltern. Die Polizei hat erst dann eine Grundlage zum Einschreiten, wenn Kinder gegen ihren oder den Willen der Eltern festgehalten werden, das heißt, wenn sie gefunden werden. Bei Erwachsenen sind die Behörden ohnehin hilflos. In Kiew ging die Polizei gegen die Weißen Brüder nur deshalb vor, weil man ihnen Aufstachelung zum Selbstmord vorwerfen konnte, was in der Ukraine strafbar ist. Die Zeitung der Brüder, Jusmalos, hatte erklärt, die Tat der texanischen Davidssekte hätte nur Sinn gehabt, wenn dessen Anhänger mit dem Namen Mariens auf den Lippen in den Selbstmord gegangen wären. „Sie ist der lebendige Gott, und für sie zu sterben ist ein großes Glück. Bereitet Euch vor auf Euren Kreuzgang“, hieß es unzweideutig an die Adresse der Sektenmitglieder. Klaus Bachmann